Vergessen und/oder Verdrängen
Ein Interview mit der Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich
von Carmen Stadelhofer
Im Frühjahr
diesen Jahres hielt die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich,
mittlerweile fast 90 Jahre alt, im Rahmen der Frühjahrsakademie des
Zentrum für Allgemeine Wissenschaftliche Weiterbildung (ZAWiW) an der
Universität Ulm einen Vortrag. Thema der Veranstaltungswoche war „Lernen
und Vergessen“, das Thema des Vortrags „Vergessen und /oder
Verdrängen“. Die Erwartungen der Teilnehmenden, es waren mehr als 1000,
war groß und somit auch das Interesse, diesem Vortrag beizuwohnen. Für
die Leserinnen und Leser des LernCafe konnte die Leiterein des ZAWiW,
Carmen Stadelhofer dann sogar noch einen Interviewtermin mit der
hochgeschätzten Wissenschaftlerin vereinbaren. Das daraus entstandene
Interview geben wir hier in einer leicht gekürzten Version wieder. Thema
des Interviews – natürlich das Lernen im Alter, dann aber auch, warum
das die Vergangenheit nicht vergessen werden darf, damit auch weiterhin
die nachfolgenden Generationen für die Zukunft daraus lernen können.
Wir haben gerade einen Paradigmenwechsel, in den Medien ist nicht
mehr „der gebrechliche Alte“ im Vordergrund, sondern „das Alter als
Chance“, „die Altersproduktivität“. Frau Dr. Mitscherlich, Sie sind fast
90, Sie haben heute einen wunderbaren Vortrag gehalten, wie sehen Sie
das mit dem Alter und dem Altern?
Na, ich finde das schon ziemlich schwierig. Ich habe meinen Körper -
wie Sie sehen, ich gehe mit einer Krücke - ich war jemand der sich gerne
viel und schnell bewegt hat, das kann ich nicht mehr, also man muss dann
auf vieles verzichten im Alter. Man hat vielleicht etwas mehr Zeit und
Ruhe um etwas zu lesen und nachzudenken, usw. Also die körperliche
Bewegung macht Freude, aber die Bewegung des Denkens macht auch große
Freude, und die hab ich Gott sei dank nicht verloren, sondern bin ihr
hingegeben wie eh und je. Ich merke, dass das auch sehr befreiend wirkt,
auch dadurch, dass man sich wirklich zugestehen kann, alt zu werden und
sich mit dem Alter so weit wie möglich auseinander zu setzen und zu
wissen, wie diese Zeit aussieht und wie unterschiedlich sie ist zu den
vergangenen Zeiten, in der man täglich bis zu seinem Lebensende noch
Neues lernen kann, was durchaus seine sehr erfreulichen und lustvollen
Qualitäten hat.
Es gibt ja jetzt zunehmend die Tendenz zu sagen, Altern heißt nicht
nur das Recht zu haben zu lernen, sondern es ist auch eine Pflicht zu
lernen – würden Sie das auch so mittragen?
Ich wüsste nicht, wem gegenüber ich Pflichten hätte außer mir selber
– wenn Sie wollen natürlich auch seinen Kindern und Enkelkindern. Aber
ich lerne nicht aus Pflicht, ich lerne aus Lust.
Ich bin sozusagen an der dänisch-deutschen Grenze groß geworden. Auf der
dänischen Seite war man nicht so autoritär und pflichtbewusst wie auf
der deutsch-preußischen Seite. Ich habe gemerkt, dass man, wenn man das
Lernen nicht aus Pflicht tut, sondern mehr aus Lust - weil es einfach
schlicht Vergnügen macht mehr zu wissen, mehr zu kennen, sich besser
orientieren zu können – dass man da viel lernt. Deshalb propagiere ich
nach wie vor die lustvolle Seite des Lernens, und nicht das von uns aus
reiner Pflicht verlangte Lernen.
Könnten Sie uns ein Szenarium beschreiben, wo Sie denken, da lernen
Menschen lustvoll, Menschen jeden Alters? Was gehört dazu, um Lust zu
haben am Lernen?
Ja, das kommt ganz von selber. Wenn man spürt, wie viel Spaß es
macht. Z. B., wenn man Sprachen lernt und man kann sich plötzlich mit
anderen Leuten unterhalten und sie kapieren einen ganz anders, als wenn
man ihre Sprache nicht kennt, denn man gewinnt ganz anders Kontakt zu
Menschen. Und so geht das mit allen Gebieten, es ist nicht nur die
Sprache. Spaß macht es, wenn man sich auf bestimmten Gebieten, die einen
interessieren - es können einen ja nicht alle interessieren - merkt, wie
der Zeitgeist läuft und wie das Ganze ist und man langsam versteht, auch
gerade im Vergleich zu früheren Sichten des Sehens und Urteilens, dass
es neue Möglichkeiten gibt, Spaß macht, wenn man auch die weitere
Erkenntnisfähigkeit in einem selber und auch bei anderen erkennt und die
Lust daran, diese Dinge in ihrer Differenziertheit wahrnehmen zu können.
Das kommt dann von selber, wenn man erstmal merkt, welch eine Lust das
Denken macht, dann kommt das von selber, dass man spürt, dass das Lernen
ein ganzes Stück des Glücks des Lebens ausmachen kann.
Wir machen ja hier im ZAWiW sehr viel Arbeit mit jungen Menschen. Sie
haben heute immer deutlich gemacht, wie wichtig es ist, dass wir die
Vergangenheit nicht vergessen, aber auch in die Zukunft schauen. Glauben
Sie, dass unsere Jugendlichen heute bestimmte Botschaften brauchen – und
wenn ja, wie könnte man sie formulieren?
Wissen Sie, ich habe vier Enkelkinder, also wenn man Botschaften
formuliert, um Botschaften den Enkeln beizubringen, das funktioniert
nicht, sondern man muss es im Gespräch, im Kontakt machen. Wenn man z.
B. sagt, Kinder ihr müsst euch doch damit beschäftigen, z.B.
Rentenalter, was machen wir mit den Emigranten, was machen wir mit der
ganz anderen gesellschaftlichen Situation, wollt ihr die Wehrmacht noch
und warum ist die Wehrmacht überhaupt, soll sie in Afghanistan sein oder
nicht – also die Auseinandersetzung suchen mit all dem, was jetzt
passiert, auch mit der Schwierigkeit, eine Stelle zu bekommen, oder mit
der ganzen Arbeitslosigkeit. Was ist der Grund dafür? Ihr müsst euch
erkundigen, um zu kapieren, warum vieles nicht geht, warum die ganzen
Stellen nicht mehr existieren, warum z. B. die Deutsche Bank jedes Jahr
Milliarden gewinnt und Stellen in Tausender Größe abbaut. Wie kann so
was sein? Diese Dinge einfach zu verstehen, unsere Welt zu verstehen –
das den Enkeln nahe zu bringen, ohne ihnen irgend eine moralische
Position aufzudrängen, die man für sein eigenes Leben erobert hat, das
ist ein Weg. Also durch Gespräche, nicht durch oberlehrerhafte Gebote
oder einseitige Vorstellungen – so sollen wir leben und nicht anders.
Heute bedauern ja viele, dass es keine Vorbilder mehr für die Jugend
gibt. Was sagen Sie als Psychoanalytikerin, brauchen wir eigentlich
Vorbilder?
Ich habe mal ein Buch geschrieben „Das Ende der Vorbilder“, das war
eines, an dem war ich sehr interessiert, als ich das schrieb. Dass ich
spürte, es gibt keine Vorbilder mehr, weil die Welt sich so verändert
hat, dass Denken sich so verändert hat. Und dennoch brauchen wir
natürlich Vorbilder, wenn man bedenkt, dass wir vollkommen hilflos auf
die Welt kommen. Sie wie Ich, wir alle sind, völlig abhängig von zwei
Menschen. Wir können nicht sprechen, wir können nicht selbständig gehen,
wir können nicht selbständig essen, wir können gar nichts. Wir wissen,
dass diese ganzen Jugendjahre unglaubliche Einwirkungen auf die
Entwicklung unseres Gehirns haben – und die Art wie wir dann zu unseren
Wertvorstellungen kommen, auch sehr viel zu tun hat mit all dem was wir
lernen.
Wir lernen ja kolossal viel, plötzlich mit 2 bis 3 Jahren können wir
sprechen, wir essen genau wie Vater und Mutter es verlangen, wir
schreien nicht mehr da, wo wir nicht schreien sollten. Und da brauchen
wir natürlich dringend Vorbilder, die uns das vormachen. Denn Caspar
Hauser bekanntlich, der wohl von Tieren/Wölfen, erzogen wurde und die
Sprache nicht kannte, kam stumm auf die Erde, wusste nicht, wie er sich
unter Menschen verhalten sollte. Also ursprünglich brauchen wir alle
Vorbilder, um in dieser Gesellschaft einigermaßen orientiert zu
existieren.
Wie würden Sie den Begriff „Vorbilder“ heute noch mal nehmen, er ist
ja auch oft missbraucht worden in unserer jüngsten Vergangenheit?
Ich meine „Vorbilder“ ist immer so moralisch. Moralisch ist sowieso,
wenn man sagt – „Ich bin besser – Du bist schlechter, deshalb musst Du
so werden wie Ich“, das ist nicht die Art „Vorbilder“, mit denen man
heute den Jungen kommen kann, dass die dann auch plötzlich Lust und
Bereitschaft am neuen Lernen haben, und man muss dauernd neu Lernen!
Gestern sagte Herr. Prof. Ziegler, „ein Mentoring, einen
Mentor/Mentorin haben“, der einen etwas geleitet, ist von großer
Bedeutung
Ich habe z.B. durch meine Deutschlehrerin in der Schule Unendliches
gelernt an Nachdenken, an Neudenken, an Umdenken, weil sie uns die
ganzen Themen Philosophie und Literatur, in dem ja alles gespiegelt
steht, und immer wieder neuem Denken und neues Sehen nahe gebracht hat,
und zwar mit den Augen dessen, der nicht mit vorgefasster Meinung daran
geht, sondern auf jeden dieser neuen Stücke von Literatur, Denken,
Philosophie bereit war, das neue daraus zu akzeptieren und zu
verinnerlichen.
Da spürt man richtig, dass das Denken für Sie nicht nur eine große Rolle
spielt, sondern auch Ihr ganzes Leben erfüllt.
Ja klar, klar.
Ich danke Ihnen!
Das Interview mit Frau Dr. Margarete Mitscherlich führte Carmen
Stadelhofer, Leiterin des ZAWiW an der Universität Ulm im Anschluss an
den Vortrag Frau Dr. Mitscherlich, den sie im Rahmen der
Frühjahrsakademie - Vortag 29. März 06 Thema: Vergessen und/oder
Verdrängen in Ulm hielt.
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