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Schneiderausbildung in den 50ern

                                      von Elisabeth Grupp
1951-1954 erlernte ich den Beruf einer Herrenschneiderin in Karlsruhe. Nicht Azubi sondern Lehrling war man damals. Aus meinen Erinnerungen berichte ich.

 

 

Berufsfindung in schwieriger Zeit
Bei meiner Entlassung aus der Volksschule im Jahre 1951 wollte ich Verkäuferin werden. Doch meine Mutter sagte, dass dies kein geeigneter Beruf für eine spätere Ehe sei. Außerdem müsse ich den ganzen Tag auf den Füßen stehen. So kam ich zu einem Schneidermeister in die Lehre. Es war eine harte Zeit. Jeden Morgen stand ich um 5 Uhr auf. Wir arbeiteten an sechs Tagen in der Woche. Und so musste ich auch samstags um 7:30 Uhr in der Werkstatt sein.
Da wir auf dem Land wohnten, dauerte die Fahrt recht lange. Zuerst fuhr ich mit dem Zug und dann mit der Straßenbahn. Ziel war die Kaiserstraße in Karlsruhe. Die Fahrt mit Bahn und Straßenbahn kostete 25,00 DM im Monat. Somit blieb im ersten Lehrjahr von meinen 25,00 DM Monatslohn nichts mehr übrig. Im zweiten Jahr erhielt ich 30,00 DM und im dritten durfte ich mich über 35,00 DM freuen. Als Gesellin bekam ich einen Stundenlohn von 0,75 DM. In der damals üblichen 48-Stundenwoche verdiente ich 36,00 DM.

Die gute Adresse für Maßkleidung
Mein Lehrmeister Adam Schmidt war als Heimatvertriebener aus Ungarn gekommen und hatte in der zentralen Einkaufsmeile, der Kaiserstraße in Karlsruhe, sein Atelier eröffnet. In Budapest wohnte er zuvor in dem Stadtteil Pest. Er hob stets hervor, dort hätten seiner Meinung nach die besser situierten Leute gewohnt.
Vor seiner Übersiedlung führte er ein großes Atelier mit mehreren Gesellen und Lehrlingen. Da er aber nicht mehr ganz so jung war, wollte er hier in seiner neuen Heimat keinen großen Betrieb mehr aufbauen. Somit war ich der einzige Lehrling.
Für mich war er wie eine Vaterfigur und sprach mich stets mit „Kerle“ an.
Zur gleichen Zeit absolvierte die Tochter seiner zweiten Frau bei ihm eine Weiterbildung. Nach der Meisterprüfung wanderte sie nach Kanada aus. Wir verstanden uns sehr gut. Bei ihrem Abschied schlug sie mir vor, ihr als Gesellin nachzufolgen. Ich besaß jedoch keinerlei englische Sprachkenntnisse und fühlte mich auch noch ein wenig zu jung. So lehnte ich den Vorschlag ab.

Kundschaft und Kundenkontakt
Wegen seiner außerordentlichen Kenntnisse und seiner Eleganz als Schneider war er im gesamten Umkreis bekannt. Wir hatten eine renommierte Kundschaft und nicht selten arbeitete er für einen Konsul. Ein Kostüm kostete 300,00 DM und ein Anzug bis zu 600,00 DM. Das war in den Jahren nach 1951 ein stolzer Preis. Kam ein Kunde zu ihm, so führte er ihn ins Herrenzimmer. Hier fanden die Besprechungen, das Maßnehmen und die Anprobe statt. Ich selbst hatte keinen Kontakt zu seinen Kunden. Meistens war es meine Aufgabe, die fertige Kleidung an die angegebene Adresse zu bringen und nur abzugeben. Das war manchmal nicht ungefährlich. Zum Beispiel, wenn ein Mantel mit kostbarem Innenpelz gefüttert war.

Arbeiten in meinem Lehrbetrieb
Als Lehrling hatte ich täglich ganz bestimmten Aufgaben. Das Feuer war im Herd anzufachen und für die Bügeltücher frisches Wasser in der Schüssel bereit zu stellen. Die Schutztücher musste ich morgens sofort von den Maschinen entfernen. Ebenso wischte ich möglichen Staub ab.
Während der Lehrzeit lernte ich sowohl das Nähen mit der Hand als auch mit der Nähmaschine. Die verschiedenen Techniken wie Pikieren, Staffieren und ähnliches wurden täglich beim Anfertigen von Kostümen und Sakkos geübt. Mit der Zeit konnte ich Hosen nähen, Kleidung in Form bügeln, pikieren, staffieren, schöne Taschen einsetzen, kurz alles, was ein Lehrling nach und nach lernen musste, um ein guter Geselle zu werden.
Wöchentlich einmal besuchten wir die Gewerbeschule. Hier übten wir im ersten Jahr zunächst kleinere Sachen wie Taschen einnähen und verschiedene Nahtausführungen. Darauf folgten das Vorderteil einer Weste und ein komplettes Teil eines Hosenschlitzes mit Reißverschluss.

Sonderaufgaben - Imkerei
Mit großer Hingabe pflegte mein Meister seine 40 Bienenvölker. Die Bienenkörbe waren etwas abseits von der Stadt auf einem Grundstück aufgestellt. Wenn er die Bienen besuchte, hatte ich auch keine Lust mehr zum Arbeiten. Das bemerkte er recht bald und nahm mich deshalb auf seinem Motorrad mit, um auf dem Grundstück Gras zu hacken oder bei der Arbeit am Bienenstand zu helfen. Das blieb nicht ohne Folgen. Wenn man sich in der Nähe von so vielen Bienenvölkern aufhält, ist es nicht verwunderlich, dass man auch „persönlichen Kontakt“ mit den Bienen bekommt. An eine Situation kann ich mich noch genau erinnern. Ich war gestochen worden. Binnen kurzer Zeit schwoll mein Gesicht so stark an, dass ich nichts mehr sehen konnte. Und es dauerte einige Tage, bis die Schwellung wieder  zurückging. Aber krank gemeldet habe ich mich deshalb nicht.

Ein Schulstreich

Eine wunderbare Abwechslung zu den Arbeiten im Atelier und bei den Bienenvölkern war jedes Mal der Tag, an dem wir die Gewerbeschule besuchten. Unsere Klasse bestand aus 35 Schülern und war zusammengewürfelt aus Schneidern, Hemdennähern, Modistinnen und Kürschnern.
Einmal im Monat war Werkstattunterricht angesagt. Ein schmächtiger, unscheinbarer Lehrer hielt den Unterricht ab. Wir akzeptierten ihn nicht sehr.
An einem heißen Sommernachmittag hatten wir Lehrlinge keine Lust für den Unterricht. Ich schlug einen Filmbesuch vor. Jugendverbot hatte der Film sogar. Wenn wir schon über die Stränge schlugen dann richtig! Fast war es enttäuschend, was da gezeigt wurde, so schlimm wie erhofft war es nicht.
Am nächsten Morgen hatte mein Meister einen Brief bekommen, in dem mein Fehlen berichtet wurde. Zum Glück hatte ich es ihm schon vorher gebeichtet.
Bei dem Lehrer um Entschuldigung zu bitten, war tags darauf angesagt, auch musste ich eingestehen, dass ich die Anführerin war.

Wie meine Lehrer mich prägten
Nach der Entschuldigung lud seine Frau mich ins gute Zimmer zu Kaffee und Kuchen ein. Ab dieser Zeit war der Lehrer für mich eine geachtete Person, die ich als Schülerin mit Fleiß belohnte.
Ein anderer Lehrer hieß Blumenstätter und hatte den Spitznamen Blumenpeter. Eines Tages klopfte es an der Tür des Schulzimmers. Der Lehrer ging vor die Tür, ließ sie aber einen Spalt breit offen stehen. Plötzlich begannen die Schüler, leise aber deutlich zu sprechen " Blumenpeter" und immer wieder. Wir lachten und amüsierten uns. Natürlich war ich auch dabei und lachte, als der Lehrer hereinkam. Er sagte zu mir gewandt: „Sie auch, Elisabeth?"
Das traf mich sehr. Ich habe mich geschämt. Es erstaunte mich, dass ein Lehrer sein Vertrauen in mich gesetzt hatte. Danach wuchs meine Achtung vor diesem Lehrer, und er konnte sich fortan nicht mehr über mich beklagen.
Von diesem Zeitpunkt an besuchte ich gern die Schule. Denn zum ersten Mal erlebte ich Lehrer, die in mir den Ehrgeiz zum Lernen weckten.

Das Ende der Lehrzeit
Adam Schmidt wurde sehr krank und wollte nach Kanada zu seinem Sohn auswandern. Somit beendete ich schon nach 2 ½ Jahren meine Lehrzeit. Als Gesellenstück musste ich einen Sakko fertigen. Mein Meister hatte den Stoff in seinem Atelier zugeschnitten. Jedoch genäht habe ich das Teil in der Schule. Hier wurde unter Aufsicht genäht, was sehr erklärlich ist. Ich legte meine Gesellenprüfung mit Belobigung ab. Als Geschenk erhielt ich einen Buchpreis. Die Freisprechung fand während einer Feier durch den Vertreter der Handelskammer statt.

Illustration
Gesellenbrief Elisabeth Grupp


Als ich nach meiner Prüfung mit dem Gesellenbrief heimkam, hatte meine Mutter ein besonderes Abendessen bereitet. Aber ansonsten wurde damals kein großes Aufheben um eine Gesellenprüfung gemacht.
Rückblickend bin ich dankbar, dass ich diesen praktischen Beruf erlernt habe. Denn in meiner Familie mit fünf Kindern hat er auch innerfamiliär reiche Früchte getragen.

Erklärungen
In meinem Artikel habe ich für das Schneidern spezielle Ausdrücke verwendet, die ich erklären möchte.
Kleidung in Form bügeln: Das Bügeln besonders der Schulterpartien und Ärmel an Anzügen, Kostümen und Mänteln bedarf einer großen Sorgfalt, mit dem Bügeln gibt man diesen Partien die Form, die sie behalten. Doch Stoff, der einmal während des Bügelns zu stark gedehnt worden ist, kann anschließend nicht mehr oder nur sehr schwierig wieder in Form gebracht werden.
Pikieren: Um einem Sakko oder einer Kostümjacke eine gute Passform zu verleihen, wird im Vorderteil eine korrekte Einlage eingearbeitet. Eventuell besteht diese aus mehreren Lagen unterschiedlicher Stoffe. Die Stofflagen müssen einzeln beweglich sein und werden daher durch „Pikieren“ zusammengefügt. Hierbei wird stets nur ein kleines Stückchen Faden des Oberstoffes – und nur an bestimmten Stellen des Kleidungsstückes – gegriffen, so dass die Stiche auf der Außenseite unsichtbar bleiben.
Dabei darf nur sehr locker genäht werden und stets in Handarbeit. Bei einem Sakko dauert sorgfältiges Pikieren bis zu fünf Stunden.

Staffieren:
wird in einem Fachlexikon so erklärt:
„Ein Kleid staffieren, es mit Tressen, Borten, Schleifen etc. besetzen oder ausputzen. So staffiert der Kleidermacher oder Schneider das Oberzeug mit dem Unterfutter an ihren Kanten dergestalt mit Vorder- oder Nebenstichen zusammen, daß sowohl das Ober- als Unterzeug eingelegt wird, und beides gleich vorsteht. So staffiert der Hutmacher einen Hut, wenn er das Futter hineinsetzt und die Tressen, Schnüre oder das Band herumnäht, daher wird eine von den Hutmachern noch verschiedene Art Handwerker Hutstaffierer genannt, im Oesterreichischen Hutstepper. So werden die Schuhe beim Schuhmacher staffiert, wenn man sie mit Band einfaßt, und getollten Band, Schleifen, Rosetten und andere Verzierungen von Band vorn darauf setzt.“
Artikel „Staffieren“ in: Johann Georg Krünitz: Ökonomisch-technologische Enzyklopädie, Band 168 (1838), Seite 460 (elektronische Ausgabe der
Universitätsbibliothek Trier

 

 
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