Eine Kiezgeschichte

Dr. Christine Roßberg, Berlin

Das alte Gebäude liegt in einer Hauptverkehrsstraße in unserem Kiez. Die breiten Stufen zum Eingang haben Risse. An ihren Schmalseiten bröckelt das harte Material auf die kleine Nebenstraße. Zwischen den gelben Fliesen vor der gläsernen Eingangstür drängen sich Löwenzahn und Gräser aus den Fugen und verstärken den Eindruck, dass hier schon lange niemand mehr seinen Fuß hersetzte. Wie Dornröschens Schloss ist das langestreckte Gebäude zugewuchert. Verwilderte Sträucher reichen fast bis zur ersten Etage. Niemand blickt mehr aus den leeren Fenstern auf die belebte Straße mit den eilenden Menschen, dem hektischen Autoverkehr, dem Taxistand vor dem Haus, die ehemaligen Heimbewohner sind längst umgezogen in ein neues Heim. Nur wenige hundert Meter entfernt. Auf der gegenüber liegenden Straßenseite überragt das Seniorenheim „Abendsonne“ in strahlendem Gelb die Dächer der davorstehenden, rekonstruierten Einkaufspassage. Es bietet vielen alten Menschen einen liebevoll behüteten Lebensabend. Mit diesem Haus, seinen Mitarbeitern und Heimbewohnern verbindet mich ein fast freundschaftliches Verhältnis. Sein Vorgänger aber war mehr als dreißig Jahre lang ein Teil meines Lebens.
Als Ärztin, nach dem Studium in Berlin heimisch geworden, begann ich meine Arbeit im Ambulatorium, ganz in der Nähe des Feierabendheimes. Damals war es üblich, dass staatliche Einrichtungen innerhalb eines Wohngebietes auch außerhalb der Arbeitszeit für die Bewohner und ihre Probleme erreichbar waren. Gesellschaftliche Arbeit – heute würde man das als Ehrenamt oder bürgerliches Engagement bezeichnen – für uns Mitarbeiter war das selbstverständlich. Ein Patenschaftsvertrag verband das Ambulatorium mit dem Heim. Hatte der Heimarzt Urlaub oder wurde krank, übernahmen wir seine Arbeit. Oft bat der Heimleiter um medizinische Betreuung, wenn im schönen Garten des Heims ein Rentnersportfest die Heimbewohner begeisterte. Natürlich waren nicht sie es, die beim Tauziehen, Ballspielen oder sogar Sackhüpfen und Wettlaufen miteinander kämpften. Die Heimbewohner saßen an ihren Fenstern oder auf der Terrasse und klatschten Beifall. Die „Sportler“ waren ältere Bürger unseres Wohngebietes, für die sich das Heim geöffnet hatte.

Das Feierabendheim nahm seine Aufgabe, auch Treffpunkt für ältere Menschen aus dem Wohnumfeld zu sein, sehr ernst und organisierte regelmäßig beliebte Veranstaltungen, z.B. Konzerte, Auftritte von Künstlern, festliche Zusammenkünfte an Feiertagen. Viele meiner Patienten fühlten sich dort hingezogen. Ein Allgemeinmediziner und Hausarzt ist besonders für alte Menschen oft der einzige Ansprechpartner, den sie haben. Ich lud sie zu den Veranstaltungen des Heimes ein und war dann natürlich auch selbst dabei. Wie aber konnte ich mich beim Heimpersonal für ihr Entgegenkommen bedanken? Die Chance dazu ergab sich, als der Heimleiter mich fragte, ob ich nicht mit den Heimbewohnern eine kleine Singegruppe aufbauen könnte. Seine Schützlinge wollten gerne Volkslieder singen und ein ehemaliger Musiker würde die Klavierbegleitung übernehmen. Das traute ich mir zu, weil ich bescheidene Kenntnisse in der Chorarbeit hatte. Schon bald traf ich mich regelmäßig mit drei alten Herren und acht älteren Damen aus dem Heim zum fröhlichen Singen.
Wäre das nicht auch etwas für einige meiner Patienten, die in Gefahr waren, zu vereinsamen? Ich beriet mich mit dem Heimleiter und es dauerte nicht lange, da saßen begeisterte Sangesfreunde von drinnen und draußen im Saal des Feierabendheimes beieinander, hatten keine Probleme miteinander und sangen gemeinsam. Zuerst alle vierzehn Tage, dann jede Woche, immer nach meiner Sprechstunde. So wurde das Heim ein Teil meines Lebens, die Singegruppe wurde größer und entwickelte sich zu einem Chor fröhlicher Rentner. Wir nannten uns auch so und wurden bald im Wohngebiet bekannt. Doch unsere Heimat war das Feierabendheim. Da feierten wir unsere Geburtstags- und Weihnachtsfeste, übten kleine und später anspruchsvollere Programme ein, die wir vor anderen älteren Menschen vortrugen. Wir sangen für die Heimbewohner, vor allem, als die „Gründungsmitglieder“ aus dem Heim aus Altersgründen nicht mehr mitsingen konnten. Wir gingen über die Stationsflure und brachten an den geöffneten Zimmertüren etwas Fröhlichkeit und Optimismus zum Klingen. Wir sangen, als das Heim den ehrenvollen Namen „Dr. Georg Benjamin“ erhielt.

Das Personal wiederum organisierte für uns sogar ein internationales Fest, als wir Besuch von einem bulgarischen Senioren-Männerchor bekamen. Es wurde für beide Chöre ein unvergessliches Erlebnis.
In meiner ärztlichen Tätigkeit übernahm ich im Laufe der Jahre verschiedene andere Aufgaben. Das Heim blieb aber allwöchentlich mein Anlaufpunkt. Das änderte sich auch nicht, als nach dem Untergang der DDR ein neuer Träger das Seniorenpflegeheim übernahm und ihm einen neuen Namen gab. Es wurde zur „Abendsonne“. Sonne am Abend des Lebens – wir bezogen diese tröstliche Aussage auch auf uns, denn wir durften weiterhin in den uns liebgewordenen Räumen üben. Das Heim war altgeworden und genügte nicht mehr den Ansprüchen, die an Wohnraum für ältere pflegebedürftige Menschen gestellt werden müssen.
Ein schöner, anheimelnder und würdiger Nachfolger wurde gebaut und ist nun Heimstatt für seine Bewohner.
Das alte Haus ist von Sträuchern umwachsen und kein moderner Prinz hat es bisher aus seinem Schlaf erweckt. Niemand fühlt sich verantwortlich, niemand will es haben. Fast täglich gehe ich auf meinem Heimweg daran vorbei. Manchmal streiche ich versonnen über seine Wand, als möchte ich vermeiden, dass es aus seinem Dornröschenschlaf erwacht. Wir fröhlichen Rentner aber singen weiter, jetzt in der neuen „Abendsonne“, üben für Auftritte vor Menschen, denen wir Freude machen wollen, feiern unsere Chorfeste, singen für die Heimbewohner und fühlen uns den Heimmitarbeitern freundschaftlich verbunden, nun bereits seit 38 Jahren.

Das aber ist eine neue „Kiezgeschichte“.

One Response to “Eine Kiezgeschichte”

  1. Das alte Haus ist von Sträuchern umwachsen und kein moderner Prinz hat es bisher aus seinem Schlaf erweckt. Niemand fühlt sich verantwortlich, niemand will es haben. Fast täglich gehe ich auf meinem Heimweg daran vorbei. Manchmal streiche ich versonnen über seine Wand, als möchte ich vermeiden, dass es aus seinem Dornröschenschlaf erwacht.

    ehrenamtlich poetisch