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Die kulturellen Werte Europas - Eine Einleitung

Hans Joas
Leiter des Max-Weber-Kollegs für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien in Erfurt, Professor für Soziologie und Sozialphilosophie an der Universität Erfurt und University of Chicago

Seite 11 - 39

Moderation: Ursula Brunstein

Die Zusammenfassung dieses Kapitels und Fragen zum Thema wurden von Ursula Brunstein verfasst. Sie dienen als Grundlage für die Diskussion im Forum.

Bei dem obengenannten Sammelband, der sich als wissenschaftlichen Beitrag zur Bestimmung der kulturellen Werte Europas versteht, handelt es sich, oberflächlich betrachtet, um ein "Gruppenbild mit Dame", in dem sich vor allem Philosophen, Soziologen und Geschichtswissenschaftler zu Wort melden. Die Einleitung von Hans Joas soll den Grundriss dieser Bestimmung liefern, wobei er sich überwiegend auf die weiteren Beiträge des Sammelbandes bezieht.
Bei der Bestimmung der kulturellen Werte Europas wird sowohl von allgemeinen Vorstellungen über das Wünschenswerte als auch von lebendigen kulturelle Traditionen ausgegangen.

Werte definiert der Autor als emotional stark besetzte Vorstellungen über das Wünschenswerte. Das Wünschenswerte ist jedoch keine Variante unserer Wünsche als faktisch Gewünschtes, sondern ist ihnen übergeordnet. Werte sollen als Bewertungsmaßstäbe für unsere Wünsche funktionieren.
Werte werden von Normen abgegrenzt: Normen sind danach restriktiv, weil Normen bestimmte Mittel des Handelns als moralisch oder rechtlich unzulässig ausschließen. Werte schränken nach Joas den Radius unseres Handelns nicht ein, sondern erweitern ihn. Durch Bindung an Werte ist Handeln erst denkbar.
Bindungen an das Wünschenswerte oder Gute sind nicht durch bloßen Vorsatz erzeugbar, weil Bindungen ein passivisches Element zu Eigen sein soll oder muss. Das betroffene Individuum muss sich gebunden fühlen und nicht selber binden. Werte sollen ergreifen und so zu einer spezifischen Erfahrung der Freiheit führen, "die selbst unter Bedingungen äußerer Unfreiheit nicht verschwindet" (S.14).

Als prägende Traditionen der kulturellen Werte Europas werden griechisch-römische und jüdisch-christlich Einflüsse betrachtet und im geschichtlichen Kontext von Achsenzeit, Aufklärung des 18. Jahrhunderts sowie dem Totalitarismus des 20. Jahrhundert thematisiert. Auf dieser Grundlage werden die Wertkomplexe "Freiheit", "Innerlichkeit", "Hochschätzung des gewöhnlichen Lebens", "Selbstverwirklichung", "Rationalität" und "Akzeptanz von Pluralität" skizziert.

Eine genaue Wiedergabe der Einleitung würde deshalb letztendlich auf eine Zusammenfassung einer Zusammenfassung hinauslaufen, einerseits den gesetzten Rahmen für einen Diskussionsbeitrag sprengen und andererseits wohl auch möglichen Diskussionsstoff vorwegnehmen. Nachfolgend deshalb ein Versuch, die wesentlichen Gesichtspunkte der griechisch-römischen und jüdisch christlichen Tradition und ihren achsenzeitlichen Charakter, wie sie Joas skizziert, thesenartig zusammenzufassen, weil sie zu den Wurzeln der europäischen Kultur führen sollen.

Der erste Schritt in die Geschichte führt zur Kennzeichnung Europas als einer achsenzeitlichen Kultur. Achsenzeit nennt Karl Jaspers die Zeit zwischen 800 und 200 v. Christus, in der alle großen Weltreligionen ihren Ursprung haben.
Achsenzeit bedeutet im Kontext der Wertediskussion Ablösung mythischer Weltbilder, die durch systematische Reflexion auf die Grundbedingungen menschlicher Existenz ersetzt werden und Vorstellungen eines jenseitigen Reichs entwickeln. Der Oberbegriff für Philosophien und Religionen dieser Epoche ist Transzendenz, ein Begriff, der eine scharfe Trennung zwischen Weltlichem und Göttlichen impliziert.
Während mythische Weltbilder keine scharfen Trennungen zwischen Göttlichem und Irdischen aufweisen, weil Geister und Götter direkt beeinflusst werden konnten, entstehen in der Achsenzeit Philosophien, die das Göttliche als das Eigentliche, das Wahre, das ganz Andere bezeichnen, dem gegenüber das Irdische (das Mundane) nur defizitär sein kann. Damit werden unter Berücksichtigung der göttlichen Vorgaben gezielte gesellschaftliche Umwälzungen möglich, die im Fall Europa zunächst durch die griechisch-römische und christlich jüdische Tradition bestimmt wurden. Beide Traditionen haben einen achsenzeitlichen Charakter.

Der wesentliche Beitrag der griechischen Antike für die kulturelle Entwicklung Europas steht im Zusammenhang mit dem Wertekomplex "Freiheit" Es handelt sich, so Christian Meyer, um eine Kulturbildung aus Freiheit und nicht aus Herrschaft, da Monarchien keine nennenswerte Rolle spielten(S.97).
Die europäische Freiheitstradition wird weiterhin unter dem Gesichtspunkt der Sklaverei erörtert. Für den Soziologen Orlando Patterson ist Sklaverei konstitutiv für das Ideal der Freiheit, das in anderen Kulturen als Bindungslosigkeit (Verlust, Bosheit, Kriminalität, Deklassierung, Liederlichkeit) definiert wird. Danach muss es zunächst Sklaven geben, bevor die Idee der Freiheit als Wert entstehen kann.
Während "Freiheit" und "Demokratie" in der griechischen Tradition wurzeln, verdankt Europa den Römern das kanonische Recht, Verwaltungspraxis und Verwaltungssprache.

Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch wird durch die jüdische Tradition geprägt, aus der das Christentum hervorgegangen ist. Zwar wird gesehen, dass die Fügung jüdisch-christlich durch den christlich begründeten Antijudaismus in der Vergangenheit keinesfalls unproblematisch ist, dennoch wird die Bedeutung des Beitrags zur jüdisch-christlichen Tradition von Wolfgang Huber, der vier Grundmotive identifiziert, in der Einleitung von Joas besonders hervorgehoben.
Danach sind Welt und Mensch das Ergebnis einer Schöpfung, eine Gabe Gottes, zu diesen Gaben gehören auch Freiheit und Würde des Menschen.
Zweitens ist Gott nicht nur ein zu fürchtendes und/oder zu liebendes personales Gegenüber, sondern ist ein dem Menschen liebend zugewandtes Wesen, ist selbst Liebender. Das dritte Motiv betrifft die Hoffnung auf Präsenz Gottes in der Welt. Es handelt sich um ein Prinzip Hoffnung, das nicht nur die Zukunft, sondern auch die Gegenwart umfasst. Das vierte Motiv betrifft die persönlichkeitsbildende Wirkung, welche die Orientierung des Menschen an einem liebenden Gott bewirkt.
Im Spannungsverhältnis zwischen Welt und Glauben wird Hubers Beitrag als Versuch gewertet, das Menschenwürde-Gebot, Werte der Toleranz und Demokratie , Relativierung des Rechts durch das Motiv der Nächstenliebe als Werte zu verfechten, die sich aus den christlichen Grundmotiven heraus rechtfertigen lassen.

Die Bedeutung der griechisch -lateinischen Tradition für das mittelalterliche und neuzeitliche Europa wird durch einen Vergleich mit der arabischen Rezeption dieser Epochen verdeutlicht, die, anders als im Christentum, lateinischer Prägung, recht einseitig und oberflächlich ausgefallen ist.
Heftiger Widerstände zum Trotz hat das christliche Europa die Überlieferungen der Antike immer wieder im Urtext studiert und hat Leben und Wirken von Griechen und Römern als Vorbild genommen(S.95) Diese Tendenzen führen Huber zu einigen Fragen, die auch vom Autor der Einleitung übernommen werden:

  1. War man im christlichen Europa einfach offener, weniger klug oder weniger geformt und festgelegt?"(S.95)
  2. "Ließ die Kirche im Umgang mit der Heiligen Schrift mehr Spielraum als der Islam angesichts des Korans?"(S.95)
Eindeutige Antworten bietet der Text zwar nicht, allerdings steht am Ende der Ausführungen eine Schlussfolgerung im Konjunktiv. Denn wenn es so wäre, dann wäre die Antike nicht Vor-, sondern Frühgeschichte Europas.