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Rationalität - das Spezifikum Europas?

Wolfgang Schluchter
Professor für Soziologie an der Universität Heidelberg, Gründer und erster Leiter des Max-Weber-Kollegs für kultur- und sozialwissenschafltiche Studien, Erfurt

Seiten 237 - 264

Moderation: Werner Toporski

Die Zusammenfassung dieses Kapitels und Fragen zum Thema wurden von Werner Toporski verfasst. Sie dienen als Grundlage für die Diskussion im Forum.

1. Vorbemerkung

Schluchter weist darauf hin, dass Rationalität eine Eigenschaft des Menschen generell, also nicht spezifisch für Europa ist. Deshalb formuliert die Frage um: "Europa - eine spezifische Rationalität?"

Dabei sind allerdings weder "Europa" noch "Rationalität" feste Begriffe:

  • Europa wurde zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich definiert und hat auch heute fließende Übergänge (Russland, Türkei). Hier ist das westliche Europa gemeint.
  • Der Rationalismus ist nach Max Weber "ein historischer Begriff, der eine Welt von Gegensätzen in sich schließt" (Wert- gegenüber Zweckrationalismus, Weltanschauung gegenüber Weltgestaltung etc.).
Ferner differenziert Schluchter:
  • historische Betrachtung: Welche Besonderheiten haben zu Entstehung und Verbreitung des Rationalismus geführt?
  • normative Betrachtung: Inwieweit hat diese Art Rationalität universale Gültigkeit?

2.Max Webers Fragestellung

Sie lautet:
  • Wie kommt es zu der besonderen Eigenart unseres Rationalismus, der sich nicht nur in Wissenschaft und der Wirtschaft, sondern auch in der Verfassung unserer Staaten und selbst in der Kunst zeigt?
  • Weshalb entstand er nicht woanders, etwa in Indien oder China?

Besondere Beachtung verdient dabei der Betriebskapitalismus (im Wechselspiel mit der Wissenschaft) mit seinen Voraussetzungen berechenbare Verwaltung und Rechtspflege.

3.Ursachen dieses "in der Weltgeschichte einmalig dynamischen historischen Prozesses" (Ferdinand Seibt)

Noch bis zur ersten Jahrtausendwende lag Europa im Vergleich zu China, Indien oder Arabien weit zurück. Dann jedoch setzte eine ungeheure Dynamik ein. Wieso?

Zuvor war mit dem Imperium Romanum auch die europäische Kultur zusammen-gebrochen. Aus der städtisch geprägten war eine ländliche Gesellschaft geworden. Zugleich hatte dieser historische Bruch Freiheit für die Massen der Unfreien gebracht (nicht zuletzt durch das Christentum), die ihnen Besitz und die Gründung von Einzelfamilien gestattete.

Im Mittelalter gewannen die Städte wieder an Bedeutung durch zunehmende Arbeitsteilung und wachsenden Verkehr. Es entstanden erste Formen bürgerlicher Freiheit, wobei das Römische Recht und die Struktur der Kirche Elemente der Kontinuität boten.

Vier Spannungsfelder sorgten für permanente Auseinandersetzung und erzeugten Dynamik:

  • die Vitalität der jungen (Wander-) Völker - versus Ethik und Struktur der Kirche
  • nach Autonomie strebende lokale Herrschaftszentren - versus universale Kirche (Dualismus hierokratischer und politischer Herrschaft)
  • verstreute Herrensitze - versus erstarkende Städte
  • lateinische Universalkultur (die auch die Wissenschaft prägte) - versus kulturfähige junge Nationen

Die erste"wissenschaftliche Revolution", wie sie sich in der Gründung der ersten Universitäten (Bologna, Paris, Oxford) zeigte, führte zu einem Rückgriff auf die Antike und zugleich zu einer Emanzipation von theologischen Vorgaben.

Die vielschichtige Gesellschaft in den Städten kam ohne Regelungen nicht aus, schuf daher Gesetze und sicherte ihre Einhaltung durch Beamte. Da zugleich die Landwirtschaft unter dem Einfluss der Mönche effizienter geworden war, wurden weitere Kräfte für neue Aufgaben frei. Entscheidend aber war das Entstehen des modernen Berufsmenschentums mit seiner effizienten Aufgabenteilung (Max Weber).

Im 16./17. Jahrhundert bricht die christlich geleitete Einheitskultur auseinander. Nicht bei den Lutheranern, wohl aber in den protestantischen Sekten bildet sich ein Geist der Askese, der mit der Berufsidee verschmilzt: Nicht die Gnade allein kann den Menschen erretten, sondern seine Bewährung in der Welt. So bekommt der Beruf ein religiöses Fundament, und Erfolg wird zum Zeichen der Erwählung. Dieser Geist prägt die aufstrebenden Bürgerschichten im "konfessionellen Zeitalter".

Die Verknüpfung der religiös motivierten protestantischen Askese mit dem weltlichen Beruf ist neu. Ein solcher Geist der arbeitserfüllten Askese war zwar im Mönchstum vorbereitet, galt aber dort der Weltüberwindung, während er im Protestantismus als Motiv zur Weltaneignung diente und schließlich die Weltbeherrschung einschloss.

Andere Entwicklungen zielten in die gleiche Richtung und verstärkten den Trend:

  • der humanistische Rationalismus der Renaissance
  • der philosophische Empirismus (mit den Naturwissenschaften als Konsequenz)

Religion und Aufklärung standen bei dieser Entwicklung also nicht gegeneinander, sondern ergänzten sich. Obwohl die Wurzeln bis in die Antike, ja, bis zum antiken Judentum (Alltagssittlichkeit) reichen, ist "der Beitrag des asketischen Protestantismus (…) für ein Verständnis der modernen europäischen Kulturwelt unverzichtbar" (Schluchter).

Schlussbemerkung: Das Schicksal des Berufsmenschentums

Heute ist der europäische Rationalismus fraglos von weltweiter Bedeutung, dagegen als gültige Norm keineswegs unumstritten. Die Berufsidee hat sich inzwischen säkularisiert und so von ihrem inneren Wert entkoppelt. Der "Sieg des Kapitalismus" führte nach dem Verlust des ethischen Fundaments zu einer weltweit konfliktären Situation, von der wir nicht wissen, wohin sie führen wird. Max Weber: "… ob nicht am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden."

Kann sein, "dass wir, gerade auf der Grundlage (unserer Rationalität), einer Zukunft entgegensehen, die im wörtlichen Sinne fragwürdig ist" (Schluchter).

Fragen:

Worin liegt der Wert unserer Rationalität?
  • Was verlören wir, wenn wir sie aufgäben? Wenn Zweifel verboten würde?
  • Dürfen wir uns Irrationalismus leisten?
Welche Gefahren birgt der Rationalismus?
  • Wird die Linearität rationalen Denkens mit der Komplexität des Lebens fertig?
  • Engt Rationalität die Rolle des Gefühls ein?
  • Ist die Beschleunigung historischen Geschehens eine Folge des R.? Wo führt sie hin?