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Hat Europa eine kulturelle Identität?

Peter Wagner
Professor für Politik- und Gesellschafttheorie am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz

Seiten 494 - 512

Moderation: Manfred Schmitz

Die Zusammenfassung dieses Kapitels und Fragen zum Thema wurden von Manfred Schmitz verfasst. Sie dienen als Grundlage für die Diskussion im Forum.

Peter Wagner [Professor für Politik- und Gesellschafttheorie am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz] Hat Europa eine kulturelle Identität? (In: Die kulturellen Werte Europas. Seiten 494 - 512) Die Zusammenfassung dieses Kapitels und Fragen zum Thema wurden von Manfred Schmitz verfasst. Sie dienen als Grundlage für die Diskussion im Forum.

Eine interessante und höchst aktuelle Frage, wenn wir an die tiefe Krise denken, in welche die EU durch das Ergebnis der Referenden in Frankreich und in den Niederlanden sowie durch die Entscheidung Großbritanniens, sein Referendum auf Eis zu legen, und durch den Streit um die EU-Finanzplanung gestürzt worden ist. Da hilft der Blick in die europäische Geschichte durchaus, zumal er zeigt, dass Krisen ihren Sinn haben und Teil der Geschichte sind.

Professor Peter Wagner beginnt seinen Diskurs mit dem Abschluss des italienischen Einigungsprozesses im Jahre 1870 und zitiert Massimo d´Azeglio: "Jetzt, nachdem wir Italien geschaffen haben, müssen wir die Italiener schaffen."

Was liegt näher, als zu vermuten, dass das wirtschaftliche und politische Europa nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute einen ähnlichen Prozess durchlaufen hat, der noch lange nicht beendet zu sein scheint. Zunächst als wirtschaftliches und später als politisches Gebilde geschaffen, in seinen Grenzen kontinuierlich erweitert, gilt es, den Europäer zu verwirklichen.

Hat Europa dabei so etwas wie eine kulturelle Identität entwickelt?

Peter Wagner übersetzt Identität mit Gleichheit. Der Blick in die Vergangenheit Europas stimmt uns zunächst nicht optimistisch, haben wir es doch mit einer Geschichte der Vielfalt und nicht der Gleichheit zu tun.

Und wenn Wagner an Spaltungen, an Reformation und Religionskriege, Revolutionen, die Entwicklung zur Nation, die beiden Weltkriege sowie die Trennung in Klassen erinnert, wird dadurch der Blick zurück weiter getrübt.

Wagner liest diese Entwicklungen aber auch positiv, weil Europa seine historischen Erfahrungen spätesten nach dem Zweiten Weltkrieg - und das ist seine wichtigste These - richtig gedeutet habe.

Wenn der Laie an Europa als eine historisch gewachsene Einheit denkt, dann beruft er sich nicht selten auf das christliche Abendland; er benennt den klaren Gottesbezug? Das war einmal, werden viele sagen, wenn sie an neue Mitgliedsländer denken, die muslimische Bürger haben. Das war einmal, müssen wir zugeben, wenn wir daran denken, wie viele Bürger unterschiedlicher Religionszugehörigkeit inzwischen in Europa leben.

Was ist es dann, was uns eint bzw. gleich macht außer der Vielfalt? Sind es gemeinsame Werte, nach denen die Menschen in Europa handeln? Möglich. Sind es Menschenrechte und Demokratie? Ja, aber die gibt es in anderen Regionen dieser Welt auch. Ist es der Gedanke, dass Europa nach wie vor die Speerspitze des Fortschritts sein will? Warum nicht. Ist es die Verpflichtung zur Solidarität untereinander in Europa? Schon eher.

Das Bekenntnis zum Prinzip der gegenseitigen Unterstützung scheint nach mehr als zwei Jahrzehnten der Kritik am Sozialstaat und der Betonung der Reformnotwendigkeit, ein europäisches Kulturgut zu sein, um das uns andere durchaus beneiden. Sagte doch ein amerikanischer Freund erst kürzlich zu mir: "Folgt in euerem Reformeifer in Europa nicht uns Amerikanern. Reformiert eueren Sozialstaat, aber gebt ihn um Gottes Willen nicht auf!"

Seltsam. Ähnlich dachten die französischen Wähler, als sie am 29. Mai 2005 aus Angst vor Globalisierung und vor Verlust des Arbeitsplatzes "Non" zur EU-Verfassung sagten und den europäischen Einigungsprozess in eine Krise stürzten.

Ähnlich dachten die Niederländer, als sie am 1. Juni 2005 mit einer Mehrheit von 63 Prozent "Nee" gegen die Europäische Verfassung stimmten. "No" und "Nee" galten einem Papier von 480 Seiten, in dem viele bereits bestehende Regelungen und Verträge zwischen EU-Staaten zusammengeschrieben worden sind. Ein Papier, das der normale Bürger nicht verstehen kann, sondern nur die juristischen und politischen Insider, die es geschrieben bzw. zusammengetragen haben.

Die Referenden in Frankreich und den Niederlanden sind ein Nein gegen Politiker, die abgehoben entscheiden und nicht in der Lage sind, die Menschen emotional für das wachsende Europa einzunehmen.

Dieses Nein ist allerdings auch ein Ja zur Ungleichheit in der Europäischen Union, in der seit der jüngsten Erweiterung viele für die gleiche Arbeit zehnmal weniger verdienen als wir Deutsche oder die Franzosen.

Es ist ein Nein zu jener EU, die den französischen Bauern die Zuschüsse kürzen könnte, damit die tschechischen Landwirte so viel einnehmen können wie einst ihre französischen oder deutschen Kollegen, jene Zuschüsse an die Bauern, die dem Briten Tony Blair ein Dorn im Auge sind und es ihm leicht machen, weiter auf seinen Rabatt zu bestehen. Aber auch die Vorstellung, dass Rumänen oder Polen ebenso große Europäer sein wollen wie sie, flößt Franzosen und Niederländern Angst ein, und nicht nur ihnen.

Dort, wo das Volk über die Europäische Verfassung abstimmte, sprachen sich die Menschen nicht gegen eine Verfassung aus, die sie nicht gelesen hatten, sondern artikulierten ihre Angst vor dem Teuro, ihre Angst vor dem Superstaat Europa, ihre Angst vor Zuwanderung und Überfremdung, ihre Angst vor Lohndumping, Arbeitslosigkeit und Profitgier.

Der Historiker hat es da etwas leichter. Professor Wager lobt mit der Weitsicht des Experten die Grundrechtscharta der Europäischen Union, die in die Europäische Verfassung eingeflossen ist, als Verfassungselement neuer Art, mit Prinzipien, an denen sich Handeln orientiert.

"Unter diesen finden wir nicht nur die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit, die in der westlichen Welt Tradition generell verankert sind, sondern auch diejenigen vom Menschenwürde und Solidarität, mit denen spezifische Schlussfolgerungen aus europäischen Erfahrungen gezogen werden".

Und genau das haben die Menschen in Frankreich und in den Niederlanden, die gegen die Europäische Verfassung gestimmt haben, nicht gewusst. Weil die Elite der Politiker nicht in der Lage war, ihnen dieses zu vermitteln.

Warten wir ab, welche Prioritäten Tony Blair setzt, wenn er den Vorsitz der EU übernimmt. Vergessen wir nicht: Er ist der Politiker, der den angelsächsischen Wirtschaftsliberalismus vom Margret Thatcher in seinem Land mit New Labour weitergeführt hat. Von seinen Landsleuten wissen wir, dass sie in der Mehrheit gegen die EU-Verfassung gestimmt hätten, wäre ihnen ein Referendum vergönnt gewesen. Wie wir inzwischen wissen, wäre das Ergebnis in der Bundesrepublik nicht anders ausgefallen. Kaum zu glauben, dass es Blair gelingen soll, die Schaffung der europäischen Identität voranzutreiben. Doch der Historiker denkt positiv.

Wenn Europa eine kulturelle Identität habe, dann müsse sie aus den Erfahrungen mit diesen Spaltungen und Grenzziehungen und aus den Deutungen resultieren, sagt Professor Peter Wagner. Pluralität und Vielfalt, Fortschritt, Freiheit und (gemeinsame) Selbstbestimmung, Gleichheit, Wohlstand und Solidarität seien Antworten auf Religionskriege, Reformation, demokratische Revolution und Klassenkampf. Aus diesen historischen Erfahrungen erwachse eine Identität, die handlungsleitend sein könne und die Europäer von anderen unterscheide.

Wagner glaubt an ein selbstbewusstes Europa, das aufgrund seiner historischen Erfahrungen eine klare Antwort auf die Globalisierung geben und sagen wird, wie die Welt von morgen aussehen kann. Also bleiben wir zuversichtlich und warten wir die Antwort auf die gegenwärtige Krise ab, in der sich die EU befindet. Dass sie kommen wird, ist nur eine Frage der Zeit. Das zeigt die Geschichte Europas.