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Wie Europa seine Vielfalt fand
Über die mittelalterlichen Wurzeln für die Pluralität der Werte

Michael Borgolte
Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Humboldt-Universität, Berlin

Seiten 117 - 163

Moderation: Ellen Salverius-Krökel

Die Zusammenfassung dieses Kapitels und Fragen zum Thema wurden von Ellen Salverius-Krökel verfasst. Sie dienen als Grundlage für die Diskussion im Forum.

Der Autor möchte als Mittelalterhistoriker dem Auftrag des Bandes/der Herausgeber nachkommen und ergründen bzw. begründen, dass Europa im Mittelalter seine Vielfalt fand. So geht er zunächst davon aus, dass tatsächlich nach Ende der Antike, also der Vorherrschaft der Römer, Europa als historische Größe im Laufe des Mittelalters, als der darauf folgenden Epoche, nördlich der Alpen entstand. Mit dem Ende der Römerzeit löste sich auch die mediterrane Kultureinheit auf. Entscheidend für diese Entwicklung seien die Völkerwanderungen gewesen. Des weiteren hätten die Eroberungen der muslimischen Araber und Berber in Kleinasien und Nordafrikas dazu geführt, dass das Mittelmeer zur religiösen und kulturellen Grenze geworden sei, trotz der zeitweisen Übergriffe des Islam auf Spanien und Italien.

In einem ersten Theorieteil versucht Borgolte den Begriff der Einheit und der Vielfalt zu erläutern, da er entsprechend der Diskussion innerhalb der Geschichtswissenschaften die Notwendigkeit sieht, daß beide Begriffe kein Gegensatz sind. Unter Einheit ist die Einheitsvorstellung als geschlossene Geschichtskonzeption zu verstehen, die aber mehrere Geschichtsbilder hervorbringt und Besonderheiten hervorhebt. Dies widerspricht nicht dem Einheitsgedanken. Die Einheit ist der Rahmen um diese verschiedenen Bilder, sie ist ein Gefüge aus Einzelheiten mit zahllosen Differenzen. Die Geschichte erfasst größte Unterschiede ohne sie zu vermengen und kann auch Gegensätze untrennbar miteinander verbinden. Die Einheit hält die Vielfalt zusammen.

Was heißt das für Europa? Borgolte führt an den Themen Geographie, Staat und Politik, Sprache, Kultur und Geschichte aus, dass Europa immer eine Vielfalt und auch nicht abgrenzbar war. So konnte etwa die Ostgrenze nie wirklich festgelegt werden, da z.B. historische Gegebenheiten diese Versuche stets untergruben. Dieser Umstand begleitet uns bis in die Gegenwart. Dasselbe gilt für die Politik, da Europa nie vollendet war und stets unter verschiedenen Vorstellungen begriffen wurde. Und diese Verschiedenheit, so der Autor, war für Europa ohne politische Einheit stets Kennzeichen seiner Stabilität. Damit wird Europas Vielfalt , seine Besonderheiten und Differenzen zum Kennzeichen Europas – es konstruiert sich daraus.

Die Frage, die dieses Kapitel für das gesamte Buch damit stellt, muß also lauten: könnte die Entdeckung der Vielfalt im Mittelalter etwas mit der Pluralität der kulturellen Werte Europas überhaupt zu tun haben? Wie aber erkennen wir heute, das die Vielfalt im Mittelalter erkannt wurde, wie wurde sie erlebt und mit ihr umgegangen. Welche Akteure kann man da erkennen, wer hat etwas hinterlassen?

Borgolte beginnt mit der Völkerwanderungszeit, in der die Menschen mit neuen Nachbarn, mit neuen Siedlern, Religionen, Sprachen und Kulturen konfrontiert wurden. Um sie zu bewältigen, zu verstehen und einzuordnen wurden sie als gottgegeben angesehen. Die neuen Völker und die aus ihnen entstandenen Staaten haben zwar keine direkten Verbindungslinien mehr bis in die Gegenwart, aber die heutige europäische Staatenvielfalt, so der Autor, lässt sich noch erkennen. Nach seiner Quellenkenntnis lässt sich zwar ein Erkennen der Staatenvielfalt bei den Menschen des Mittelalters vorstellen, aber ob die mittelalterlichen Herrscher dies auch so gesehen und anerkannt haben als ein europäisches System, lässt sich nicht sagen. Es gab ein faktisches nebeneinander von Staaten, aber etwaiges Gleichgewicht zwischen ihnen wurden eher erduldet als bejaht.

Sprache und Kultur wurde im Mittelalter durch „vielbunte Völker“ vertreten. Aber wie wurde Sprache und Kultur von den Menschen rezipiert? Wie verbreitet war das Wissen um diese Vielfalt? Es gibt sicherlich reichlich Zeugnis davon, aber letztlich alles gelehrte Literatur ohne Einfluss. Für den Bereich der Historie kann man für das späte Mittelalter erste Wahrnehmungen der Fremde erfassen. Reisende entdeckten die „Nachbarn“ und schrieben über sie. Davor interessierte man sich vor allem für die eigene Geschichte, so Borgolte.

Fasst man diesen Teil des Kapitels zusammen, so kann man davon ausgehen, dass der Unterschied des Eigenen und anderen immer bekannt war, aber eine Auseinandersetzung mit dem Fremden und gar eine Anerkennung kann bezweifelt werden. Wie also kam es dann doch zur Entdeckung der Vielfalt im Mittelalter? Hier bringt der Autor nun die Religion ins Spiel. Ihre Ausstrahlung wirke bis in die Wertewelt der Gegenwart nach. In der Religion habe es die Erfahrung von Differenz und Vielfalt in weiter Verbreitung gegeben. Durch sie sei die historische Gestalt Europas tiefgreifend geprägt und von den anderen Zonen der Welt unterschieden worden. Der Auslöser dafür war der Durchbruch der monotheistischen Religionen mit der führenden Rolle des Christentums gewesen. Der Glaube an den einen Schöpfergott (=Einheit) habe die eine geordnete Vielfalt hervorgebracht. Eigentlich paradox, so der Autor.

Seine These untermauert Borgolte indem er einen Rückgriff auf die vorchristliche Antike macht, in der es eine Vielzahl von Göttern gegeben habe. Bei den verschiedenen Kontakten, friedlichen wie kriegerischen war es nie zu Auseinandersetzungen um die richtigen oder falschen Götter gekommen, sondern man habe einfach übernommen, ausgetauscht oder mit den eigenen Namen belegt. In der Ausübung gab es keine Regeln, außer der, das man die Riten durchzuführen hatte. Letztlich konnte jeder glauben woran er oder sie wollte. Die Veränderung weg vom antiken Polytheismus hin zum mittelalterlichen Monotheismus kam dann im Mittelalter. Es gab nur noch einen Gott, einen Universalgott für Juden, Christen und Muslime. Und aus dieser Vorstellung heraus entwickelten sich Theologie und Dogma. Es wurde nicht mehr unterschieden zwischen einem und vielen Göttern, sondern zwischen wahr und falsch, nicht nur zwischen dem Monotheismus und dem Polytheismus, sondern auch innerhalb der monotheistischen Religionen selbst. Wozu das geführt hat, erzählt hinreichen die Geschichte bis in die Gegenwart.

Was bedeutet dies für die Vielfalt? Die Forschung ist sich nicht einig und unterscheidet zwischen Trennung von der Vielfalt und Akzeptanz der Vielfalt. Letztere Vorstellung befürwortet Borgolte, da der Monotheismus in seiner Kompromisslosigkeit die Wahrnehmungen des anderen schulte und damit auch zur Akzeptanz führen konnte. Jeder musste sich mit den Unterschieden in den Religionen auseinandersetzen - mit den anderen Religionen, aber auch mit den Abweichungen innerhalb der eigenen. Daraus, so der Autor, seien nicht immer nur Auseinandersetzungen entstanden, sondern auch eine ertragene Differenz mit den anderen. Darauf habe das Überleben, vor allem der Kultur, für Europa bis heute beruht.

Die Religionen selbst haben in unterschiedlichen Ausformungen das Miteinander unterstützt. Immer habe es auch den Schutz der Juden unter den Christen gegeben und unter den Muslimen hatten Juden und Christen eine Vorzugsstellung. Die soziale und politische Benachteiligung wird vom Autor nicht unterschlagen. Dennoch sei es immer zum „Alltag der Kulturellen Anleihen“ gekommen, im Alltag des gemeinen Mannes wie in der Wissenschaft. Immer gab es Unterstützung, Toleranz und Miteinander. Die Trennungen ergaben sich aus den unterschiedlichen Bräuchen. Das Mittelalter sei keine ununterbrochene Reihenfolge an blutigen Auseinadersetzungen und gegenseitiger Verachtung gewesen. Zwischenreligiöse Konflikte seien weder häufiger noch gewaltsamer als nichtreligiöse Konflikte gewesen. Es habe sogar militärische Bündnisse zwischen den Religionen gegeben, so dass es auch andere Beweggründe für Konflikte gegeben haben muß. Konflikte waren dennoch immer naheliegend.

Besonders erwähnt der Autor den Zeitraum des 12. und 13. Jahrhunderts mit seiner überdeutlichen „Verfolgergesellschaft“. Grund dafür seinen die sich entwickelnden Monarchien und des Papsttums gewesen, die eine starke zentralisierende Tendenz hatten. Insbesondere von Rom aus war der Drang zu verspüren die ganze lateinische Christenheit zum Heil zu führen und eine Einheit herzustellen. Trotz allem blieben die drei großen Religionen in Europa erhalten und fanden ihren Platz. Und schon im 11. Jahrhundert begannen die Denker der Religionen sich mit den jeweils anderen zu beschäftigen, was aber nie dazu führte an der eigenen Überlegenheit zu zweifeln. Es wurde von ihnen die Vielfalt als Problem erkannt, aber die Toleranz erwuchs daraus noch nicht. Duldung der Vielfalt ja, aber Anerkennung nein. Die Einübung der Vielfalt durch Duldung, aber auch Konflikt und Gewalt, habe die Grundlage für die Vielfalt kultureller Werte in Europa gelegt.

Fragen:

  1. Kann tatsächlich davon ausgegangen werden, dass Europa erst im Mittelalter seine Vielfalt entdeckte?
  2. Reicht die Verschiedenheit der drei Religionen aus, um die Entdeckung der Vielfalt im Mittelalter zu begründen?
  3. Welche Werte lassen sich aus den steten Konflikten zwischen den drei Religionen entwickeln?