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Der dunkle Kontinent - Europa und der Totalitarismus

Mark Mazower
Professor für Neuere Geschichte an der Columbia University, New York

Seiten 367 - 385

Moderation: Helmut Doerfler

Die Zusammenfassung dieses Kapitels und Fragen zum Thema wurden von Helmut Doerfler verfasst. Sie dienen als Grundlage für die Diskussion im Forum.

Wenn Historiker Historiker Historiker nennen …

Historische Denkweisen

Seine Perspektive legt Mark Mazower - Professor für Neuere Geschichte an der Columbia University, New York - gleich zu Beginn mit der Frage fest: "Hat das moderne Europa überhaupt eine Geschichte?" Der US-Historiker untersucht eingangs geschichtliche Definitionen von Europa. Ein geografischer Begriff tauge am allerwenigsten; wo die (östlichen) Grenzen gezogen werden, das werde "geistig entschieden" und beruhe auf "politisch-kulturellen Annahmen". Die entwickelt Mazower zuerst aus der Geschichte des 19. Jahrhunderts mit der (leider unbelegten und später nicht mehr aufgegriffenen) These, die moderne politische Vorstellung von Europa sei aus den "Spaltungen des Christentums" entstanden.

"Bestimmte Freiheitsvorstellungen": Die "heilige Allianz" von Russland und anderen Großmächten" gegen das "gottlose" Frankreich (Napoleons) wird dabei ebenso als Beleg angeführt wie der Krimkrieg beim Schulterschluss mit dem osmanischen Sultan gegen Russland als "Schlacht der Zivilisation gegen die Barbarei, für die Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit Europas." Mitte des 19. Jahrhunderts habe dann allmählich " …Europa für eine Reihe normativer Prinzipien gestanden …. in deren Zentrum eine bestimmte Vorstellung von Freiheit stand" - ein Schlüssel-Stichwort, das Mazower später (unter dem Rubrum "liberaler Ansatz") erneut aufgreift. Welche "normativen Prinzipien" im Übrigen konkret gemeint sind, bleibt leider ungesagt.

Europäisches Staatensystem und Nationalismus: Die Sicherung eines friedlichen Gleichgewichts der führenden europäischen Mächte wurde, folgen wir Mark Mazower Gedanken, in diesem Jahrhundert von einer "neuen politischen Kraft, dem Nationalismus" nachhaltig verändert. Zugleich hätten mit dem "Triumph des Nationalismus" und dem "Aufstieg des Nationalstaats" die zeitgenössischen Historiker mit der jeweiligen von ihnen erforschten (ruhmvollen) Nationalgeschichte den Aufstieg des Nationalismus quasi legitimiert. Hier greift der amerikanische Historiker die Eingangsfrage auf, ob es denn außerdem auch "eine spezifisch europäische Geschichte gibt, die sich über das bloße Sammelsurium von Nationalgeschichten erhebt."

Weitere differenzierte historische Betrachtungsweisen: Vereinfacht unterscheidet Mazower im Folgenden drei geschichtliche Denkansätze seiner Fachkollegen:
Staatensysteme und Kriegsschuld: Die (moderne) Geschichte Europas beginne bei dieser ersten Art der Geschichtsschreibung 1815 und ende mit dem Aufstieg der Supermächte 1945. Der historische Focus liege bei Großbritannien, Frankreich und Deutschland und befasse sich kaum mit Russland und noch weniger mit Osteuropa. Es gehe um die Vorgeschichte des ersten und zweiten Weltkriegs, um die jeweilige Kriegsschuldfrage und um den Aufstieg und Fall von Volksfront und Drittem Reich.
Europäische Kultur: Die zweite Form der Geschichtsschreibung setze weit früher an und "versucht, eine bestimmte Idee von Europa zu retten und ihre Spuren nachzuzeichnen." Mazower zitiert hierzu die Historiker Francois Guizot und Jacob Burckhardt, denen es beiden um "europäische Kultur" gehe. Für Guizot als "Mischung germanischer Unabhängigkeit, eines christlichen, spirituellen Individualismus und römischer Bürgertugend" ("ein Gebräu, das viele noch anziehend finden", wie Mazower maliziös anmerkt). Für Burckhardt sei " …die Idee Europas Besitz einer gebildeten Elite und im Wesentlichen eine kulturelle Kraft" Bedroht werde diese "kosmopolitische" Kultur zunehmend vom "Despotismus der Massen", vom modernen Staat und von einem "unduldsamen und eroberungssüchtigen" Nationalismus. Andere ideelle Geschichtsbilder machen Europa am katholischen Raum - von den Pyrenäen bis zur Donau - und an deren Gegnern, den Moslems und Slawen, fest oder verteidigen das christliche Abendland gegen den Orient von Karl dem Großen bis zur christlich demokratischen Aera von Konrad Adenauer. Mazower kritisiert diese einseitige Historikersicht, die das orthodoxe Christentum ignoriere, die Konflikte im europäischen Christentum bagatellisiere, die Rolle von Juden und Moslems vernachlässige und die Tendenz zur Diktatur ab der Mitte des 19. Jahrhunderts unterschlage.
Liberaler geschichtlicher Denkansatz: In Mozowers Betrachtungsweise der historischen Kräfte und Ideen im 19. und 20. Jahrhundert ist "die Idee, dass die europäische Geschichte die Geschichte der Freiheit" sei, zwar der "einschlägigste Ansatz". (Er klärt uns allerdings auch nicht darüber auf, ob er "Freiheit" zur oben genannten "europäischen Kultur" rechnet). Schon bei Hegel finde sich die Vorstellung von der sich stufenweise ausdehnenden Freiheit von der klassischen Antike über die germanische Welt bis zum zeitgenössischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts. Jedoch: Dieser Gedanke werde nicht nur etwa von Max Weber kritisiert, der grundsätzlich frage, ob " ... der moderne Kapitalismus überhaupt die Entwicklung von Freiheit und Demokratie zulasse" (eine höchst aktuelle Fragestellung!). Sondern auch von dem konservativen britischen Philosophen Michael Oakeshott, der das optimistische liberale Geschichtsbild grundsätzlich in Frage stellt. Zitat: "Besessen von der Idee individueller Handlungsfreiheit und zuversichtlich, dass ihre Ansichten das Wesen der Menschlichkeit ausmachten, sahen sie ((die Liberalen, d.V.) in ihren Feinden nur individuelle Tyrannen und Diktatoren und verschlossen ihre Augen vor der Tatsache, dass die modernen Formen von Despotismus oft auf tiefen Fundamenten gegründet waren."

Hier, nach einer weiteren, kritischen Revue unterschiedlicher historischer Betrachtungsweisen im und des 19. und 20. Jahrhundert(s) kommt Mark Mazower nun (endlich) zum Thema: Zu den "dunklen" geschichtlichen Entwicklungen und Kräften des europäischen Geschichtsprozesses in vielen europäischen Ländern und damit zu den (rechten und linken) Diktaturen.

Die Vielfalt der Diktaturen

Vereinfacht geht es Mazower im Folgenden um das Spannungsfeld zwischen Demokratie und Diktatur. Speziell in der Zwischenkriegszeit zählt er allein in Europa in dieser Periode 12-13 Diktaturen. Explizit befasst er sich im Folgenden mit den Diktaturen in Russland, Ungarn, der Türkei, im Iran und dann mit den beiden "paradigmatischen rechten Diktatoren in Europa in der Zwischenkriegszeit: … Mussolini und Hitler."

Mannigfaltige konstitutionelle Formen der Diktatur: Beim bolschewistischen Coup im 2. Weltkrieg gegen die bürgerlich-demokratische Revolution im Namen des proletarischen Sozialismus sei die staatliche Macht - wie später in Italien und Deutschland - auf die Partei übergegangen. Ähnliche undemokratische Entwicklungen hätten sich nach dem Ersten Weltkrieg in Ungarn vollzogen. "Der vieldeutige Nexus von Krieg, Massendemokratie und rechtem Autoritarismus wurde hier erstmal klar." Der 1920 zum Staatsoberhaupt gewählte Mikklos Horthy tendierte - so Mazower - ursprünglich zu einer Militärdiktatur und übte 24 Jahre lang eine "autoritäre" Herrschaft aus. Zum Vergleich zieht Mazower zwei andere außereuropäische Herrschaftsformen heran: Die Türkei, wo nach dem Krieg Mustafa Kemal Atatürk die Position des Oberbefehlshabers mit der des Präsidenten der Nationalversammlung verknüpfte. "Von 1929 bis zu seinem Tod herrschte Attatürk als Diktator eines Einparteienstaates durch seine Republikanische Volkspartei. Und der Iran, wo Reza Khan, ebenfalls ein "Mann der Armee", der ursprünglich dem türkischen Beispiel folgen wollte, dann aber auf Rat der iranischen Religionsgelehrten, auf eine "Republik" verzichtete und sich zum Staatsoberhaupt krönen ließ. Das Beispiel dieser drei "persönlichen Diktaturen" - so Mazower - zeige: Sie sind allesamt Produkte des Kriegs oder einer nationalen Krise, die alte Regimes beseitigten und den Militärs den Weg zur Macht eröffneten. Und dennoch: Die Nationalversammlungen funktionierten weiter. Bereits hier werde "… die große Mannigfaltigkeit konstitutioneller Formen von Diktaturen deutlich. Insgesamt unterscheidet Mazower in den 30 Jahren folgende nicht-demokratische Regimes: Sowjetkommunismus, faschistische Diktaturen von Zivilisten auf der Basis von Einparteiensystemen (Italien, Deutschland) autoritäre Diktaturen in Ungarn, Jugoslawien, Rumänien und Griechenland, korporative Regimes in Österreich und Portugal, militärgestützte Herrschaft in Polen und eine Militärdiktatur in Spanien.

Rechte Diktatoren: Einparteienherrschaft, die Macht von Parteihierarchien ("Führerstaat) und Massenpolitik mit Spuren des alten (demokratischen) politischen Systems: Das verbindet aus der Sicht Mazowers u.a. den italienischen Faschismus und das Naziregime. In beiden Diktaturen bleiben formale Regierungsformen ebenfalls bestehen. Was machte also ihre diktatorische Macht und die der übrigen Diktaturen in der 30er Jahren aus? Mazower tiefe Einsicht: Bei näherer Betrachtung sei das Verhältnis zwischen Demokratie und rechten Diktaturen in Europa der Zwischenkriegszeit keineswegs einfach.

Diktatur: Mehr als "nur" Totalitarismus

Und das ist in der Tat mein erster Eindruck vom gesamten Beitrag Mazowers: Bei näherer Betrachtung ist er über weite Strecken nur eine kritische Darstellung unterschiedlicher historischer Betrachtungsweisen seiner akademischen Fachkollegen. "Europäische Werte", wie sie der interessierte Leser - eventuell als ideelle Gegengewichte zu nationalistischen, faschistischen, nationalsozialistischen und sonstigen europäischen Diktaturen - in dem Text sucht, treten nur spärlich auf: Mazower nennt hier nur Freiheit und das Liberale, zusammen mit dem Begriff "Demokratie".

Interessanter dann allerdings der letzte Abschnitt des Artikels "Der dunkle Kontinent - Europa und der Totalitarismus." Hier auf den letzten sechs Seiten kommt der Verfasser tatsächlich auch auf "Totalitarismus" zu sprechen.

"Wer sagt, dass die Demokratie immer gewinnen muss?" - die Frage leitet den Abschnitt ein. "Für einige (Mazower meint da wieder seine Zunftgenossen) war der Grund für das Fehlen einer effektiven Opposition und die außerordentliche Langlebigkeit vieler Diktaturen …. viel einfacher. Sie herrschten durch Terror; ihr entscheidendes Charakteristikum war die Einschränkung der Freiheit." Und wieder, in kritischer Distanz zu seinen Fachkollegen, speziell zu Hannah Arendt: "In den Händen liberaler Betrachter verwandelte sich der Begriff des Totalitarismus … in eine neue Art von politischer Theorie, gegen Faschismus und Kommunismus gleichermaßen."

Diktaturen des 20. Jahrhunderts wie im Dritten Reich und in der Sowjetunion seien aus der Sicht vieler Wissenschaftler dadurch gekennzeichnet, dass sie versuchten, " … die Individuen ebenso wie den Staat zu formen, in die Privatsphäre des Menschen einzudringen, die Gesellschaft zu atomisieren und ihre Autonomie abzuschaffen, während sie die Macht zentralisierten.

"Die Gesellschaften als passiver Gegenstand der Aggression durch eine kleine despotische Clique" - dieses Bild baut sich Mazower dann quasi als antiliberalen Buhmann auf, um daraufhin zu recht banalen Einsichten zu gelangen: Dass die spezifische Ideologie und Propaganda in Diktaturen, neben staatlicher Gewalt und staatlichem Terror, wesentlich auf die Bevölkerung einwirkten. Dass es zwischen Regime und wichtigen Bevölkerungsgruppen Komplizentum und Denunziation gegeben habe und dass ".. einfache Bürger die politischen Ziele ihrer Führer teilten." Dass staatlicher Zwang (Mazower misst ihn "hinsichtlich Tötungen und Verhaftungen") im Laufe einer Diktatur durchaus schwankte. Und dass Diktatoren gelegentlich mit ihrer Macht unsicher umgingen. Alles in allem: Keine besonders erleuchtenden Gedanken, die uns Mazower da serviert.

Bleibt als (etwas langweiliges) Fazit des Verfassers, dass nach dem ersten Weltkrieg in Europa als erstes eine "Politik der Massen" stattfand und dort die ersten "Experimente mit einer neuen Art von Diktatur" gemacht wurden. Und dass diese "rechten Diktaturen …. ebenso Teil der politischen Traditionen Europas sind wie die Demokratien es gewesen waren." Ob das die meisten Leser nicht bereits im Geschichtsunterricht der Unterprima gelernt haben?

Meine persönliche Schlussfolgerung: Mark Mazower hat mit seinem Beitrag schlicht das Thema verfehlt. Und hat sich außerdem am Thema des Buches "Die kulturellen Werte Europas" vorbeigeschmuggelt.

Schließen wir mit einem Zitat aus Hannah Arendt "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" (Kap. 11 Die totalitäre Bewegung). "Totalitäre Regierungen pflegen die Propaganda der Bewegungen durch Indoktrination zu ersetzen, und ihr Terror richtet sich sehr bald (sobald nämlich die Anfangsstadien einer organisierten Opposition überwunden sind) nicht so sehr gegen die Gegner, die man durch Propaganda nicht hat überzeugen können, als gegen jedermann. Sobald totalitäre Diktaturen fest im Sattel sitzen, benutzen sie Terror, um ihre ideologischen Doktrinen und die aus ihnen folgenden praktischen Lügen mit Gewalt in die Wirklichkeit umzusetzen: Terror wird zu der spezifisch totalen Regierungsform."

Bleibt erstmal zu fragen:

  1. Welche europäischen Werte halfen - beispielsweise in anderen demokratischen Ländern Europas der 20er und 30er Jahre - Diktaturen zu verhindern?
  2. Gibt es einen spezifischen europäischen Totalitarismus?
  3. Sind Historiker die "besseren" Politikwissenschaftler?