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Die Bejahung des gewöhnlichen Lebens

Wolfgang Reinhard
emeritierte Professor für Neuere Geschichte an der Universität Freiburg

Seiten 264 - 303

Moderation: Werner Rütten

Die Zusammenfassung dieses Kapitels und Fragen zum Thema wurden von Werner Rütten verfasst. Sie dienen als Grundlage für die Diskussion im Forum.

Wolfgang Reinhard [emeritierte Professor für Neuere Geschichte an der Universität Freiburg] Die Bejahung des gewöhnlichen Lebens (In: Die kulturellen Werte Europas. Seiten 265 - 303) Die Zusammenfassung dieses Kapitels und Fragen zum Thema wurden von Werner Rütten verfasst. Sie dienen als Grundlage für die Diskussion im Forum.

Ausgehend von der Beobachtung, dass es sich bei der Mehrzahl der unerwünschten Mails um zwei Dinge dreht, nämlich Geld und Sex, folgert Prof. Reinhard, dass sich die Bedeutung der Werte geändert habe.

In Geld gemessene berufliche und wirtschaftliche Erfolge sowie Liebe (Sex) sind heute die"zentralen Werte unserer Kultur und Gesellschaft, freilich solche, die so gewöhnlich und alltäglich sind, daß sie als Werte, an denen wir uns orientieren, kaum noch wahr genommen werden." S.265

"Im europäischen Mittelalter war die Situation, was die Wertung solcher Sachverhalte angeht, eine völlig andere. Erfolgreich zu wirtschaften, strebsam einem Beruf nachzugehen, Arbeit zu haben war[...] üblich und notwendig. In die Wertwelt der damaligen Kultur konnte man damit aber nicht vorstoßen." S.266

Welches waren aber dann die geltenden Werte unserer Vorfahren?

"In allen vormodernen Gesellschaften waren die gesamtgesellschaftlich am höchsten bewerteten Lebensformen und jene Bestandteile der Kultur, die als Werte an sich galten, Eigentum der oberen Gruppen und Schichten der Gesellschaft. Arbeit gehörte nicht dazu." S.268

Nach Prof. Reinhard gliederten sich die Gruppen oder Schichten in Stände.

"Der erste Stand[...] war die Geistlichkeit. Ihr vor allem den Mönchen in den Klöstern, war Muße zugedacht zum Gebet, zur Meditation, und dann auch zur geistlichen Tätigkeit, zum Bücher schreiben und abschreiben, wovon sich letztlich die moderne Wissenschaft herleitet[...].

Der zweite Stand, der Adel, war von Haus aus der Kriegerstand, dazu bestimmt, durch Tapferkeit Ehre zu gewinnen. Freilich, von der kriegerischen Aktivität abgelöst und als zweithöchster Wert des Abendlandes zum Selbstzweck geworden[...]."S.269

Das tägliche Leben dieser Stände wurde von den "anderen, in der klassischen Antike vor allem die Sklaven, anderswo die Bauern und städtischen Unterschichten" gesichert. S.270

Statt "Arbeit adelt" galt "Arbeit macht gemein". "In vielen Ländern Europas verlor ein Adeliger, der sich hätte einfallen lassen, Bauern- oder Handwerkerarbeit auszuüben oder einen Kramladen zu betreiben, automatisch seine Standeszugehörigkeit, wurde zum gemeinen Mann,[...] S.268. Handel und Kreditgeschäfte verschafften offensichtlich auch kein hohes Ansehen. Wie allerdings die Fugger und Welser darein passen ist mir nicht klar. Die, von Prof. Reinhard angeführte, mittelalterliche Argumentation erscheint mir auch heute noch schlüssig. "Erstens galten Geschäfte über den unmittelbaren Bedarf des eigenen Haushalts hinaus tendenziell als unmoralisch; wer sie betrieb, war automatisch dem Verdacht ausgesetzt, sich mit Wucherpreisen unbillig zu bereichern. Das hing zweitens damit zusammen, daß die gehandelten Güter großenteils nicht unmittelbar lebensnotwendiger Luxus waren - mit billigeren lohnte sich nämlich der Handel nicht -, ihr Vertrieb infolgedessen ein Rüchlein von Verführung zur Sünde einerseits, von unverantwortlicher Verschwendung knapper Ressourcen andererseits an sich hatte. Und was drittens Kredit gegen Zins angeht, so war nicht klar, aus welchem Grund Geld sich auf dieser Weise ohne irgendeine Tätigkeit seines ursprünglichen Besitzers vermehren sollte[...]. S.271

Was Prof. Reinhard vermitteln will ist offensichtlich die Erkenntnis, dass in vormodernen Zeiten die zweckfreie Akkumulation von Besitz von Geld keine Verbesserung des gesellschaftlichen Status mit sich brachte. "Vielmehr stand einem durchaus marktwirtschaftlichen Verhalten auf der Einnahmenseite ein für unsere Begriffe absurdes Verschleudern der Mittel auf der Ausgabenseite gegenüber." S.271 Wohlgemerkt, es ging dabei nicht um die heute so beliebte, Steuer sparende Sponsorenpraxis.

Auf S. 273 definiert Prof. Reinhard dann das, was er unter "Bejahung des gewöhnlichen Lebens" meint. "die hohe Bewertung der alltäglichen Produktion und Reproduktion" was aber "historisch gesehen alles andere als selbstverständlich ist. Nicht sie war die Regel, sondern das Gegenteil, eine ganz andere Wertwelt[...]. Deshalb ist strenggenommen unsere Bewertung erklärungsbedürftig und nicht diejenige der anderen, denn jene ist gewissermaßen "normal", die außerordentliche folgenreiche Bejahung des gewöhnlichen Lebens aber der Ausnahmefall. S. 273 f.

In "der Entfaltung der christlich-jüdischen Tradition zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert" S.274 sieht Prof. Reinhard die Wurzel dieser Wertverschiebung. Humanismus und Renaissance könnten, ob ihres "elitären" Charakters, nicht so allgemein Wert bildend bzw. Wert verschiebend gewirkt haben.

"Wir benötigen die Denkfigur Dialektik, um zu verstehen, warum paradoxerweise ausgerechnet die erhabene christlich-jüdische Gattesvorstellung in letzter Instanz die Ur-Sache der Aufwertung des gewöhnlichen Lebens und damit unserer heutigen säkularen Wertwelt geworden ist[...].Der christlich-jüdische Gott ist seinem Wesen nach transzendent, das heißt er gehört nicht zur Welt, sondern befindet sich jenseits von ihr und hat sie von sich getrennt aus dem Nichts geschaffen.[...] Das bedeutet unter anderem, daß die Welt ihren eigenen Gesetzen folgen und ihre eigenen weltlichen Werte entwickeln kann, die zunächst noch einer indirekten Gottesherrschaft unterstellt werden, aber durchaus die Tendenz zur völligen Verselbständigung in sich erhalten. Genau dies ist, abstrakt ausgedrückt, der Prozeß, um den es uns geht. S. 275

Im vierten Abschnitt weist Prof. Reinhard auf den Doppelcharakter des Phänomens "Arbeit". Einerseits die durch den Sündenfall geschuldete Plage und Mühsal, andererseits als"freudige Fortsetzung des göttlichen Schöpfungswerk. Aber dieser Gesichtspunkt rat in den Hintergrund, als sich mit der ständischen Unterscheidung zwischen Klerus und Laien die Aufwertung des kontemplativen Lebens der Geistlichen, vor allem der Mönche, und die entsprechende Abwertung des aktiven Lebens der Laien durchsetzte. Die mittelalterliche Theologie war eine Theologie des Klerus und des Ordensstandes und befaßte sich kaum mit den Laien.[...] Es kostete daher etwas Mühe, die ebenfalls vorhandene, einfache theologische Feststellung auszugraben, daß die Berufung zum ewigen Heil für alle gilt, [...]. Nützliche und ehrliche Arbeit ist auch Gott wohlgefällig. S. 276

In der Folge der Reformation, erlitt der geistliche Stand einen Ansehensverlust. Die polemische Stoßrichtung gegen die faulenzenden Mönche und Pfaffen brachte dabei eine Aufwertung der Handarbeit von Bauen und Handwerkern hervor.S.279

Nun hatte die Arbeit zwar an Wert - beziehungsweise besser, an Anerkennung, gewonnen, ja der wirtschaftliche Erfolg galt nun als Zeichen der göttlichen Gnade und Ausgewähltheit. Weil das Gelingen dieser innerweltlichen Art asketischer Lebensführung, laut [Max] Weber, vor allem am wirtschaftlichen Erfolg abgelesen worden sei, habe dies den Gütererwerb zwar von den traditionellen [...] Gewissensvorbehalten befreit, aber nicht zum Genuß des Erworbenen, sondern nur für entsagensvolle weiter Akkumulation. Als der religiöse Impuls zurückgegangen und schließlich verschwunden war, sei kraft Verhalten prägender Gewohnheit nur der kapitalistische Geist als Zwang zum Erwerb um seiner willen übriggeblieben. S.282

Und dieser "Zwang zum Erwerb um seiner willen" führte dann zur Habsucht. "Habsüchtiges Gewinnstreben ist Sünde, weil es gegen das rechte Maß verstößt, das in dem besteht, was zu einem dem eigenen Stand in der sozialen Hierarchie entsprechend notwendig ist. Dieses Maß ist deswegen notwendig, weil der eine nicht Überfluß haben kann, ohne daß der andere Mangel leidet.[...]. Denn der rechte Gebrauch des Geldes liegt in seinem Verbrauch durch Erwerb lebensnotwendiger Güter.

Scholastische Kasuistik fand viele Wege, um die frühkapitalistische Praxis mit diesen strengen Grundsätzen einigermaßen in Einklang zu bringen. [...] Aber das alles hieß eben nicht Bejahung, sondern Duldung. Dabei ist es in der römischen Kirche bis ins 20. Jahrhundert geblieben.[...] Hier bot das Christentum kaum Ansatzpunkte zur Bejahung des gewöhnlichen Lebens. S.289

Aber die Humanisten haben dann offensichtlich das Tor zur "Bejahung des gewöhnlichen Lebens" aufgestoßen. "Habsucht ist nämlich natürlich, nützlich und notwendig, weil sie den Menschen erst dazu veranlaßt, sich mit den lebensnotwendigen Gütern zu versorgen. Dabei streben alle Menschen, und gerade die Großen der Geschichte, danach mehr zu haben, als sie brauchen [...], kaum einer richtet sich nach dem Gemeinwohl. Aber nur dieser Überschuß erlaubt Almosen, Geselligkeit, Kunstwerke, [...] und die Aufrechterhaltung des Gemeinwesens. S.290

>Die endgültige Umkehr der uralten Wertordnung, die Bejahung des gewöhnlichen wirtschaftlichen Gewinnstrebens, fand erst im 18. jahrhundert statt. S.291

Prof. Reinhard verweist auf das Werk des englischen Ökonomen Adam Smith
"Wohlstand der Nation" 1776. "Selbstverständlich dienen nach Smith auch die Reichen, die Tausende beschäftigen, damit nur ihre eigene Gier, aber sie fördern auf diese Weise unbeabsichtigt das Wohlergehen ihrer Arbeitnehmer und der ganzen Volkswirtschaft.

Damit war das gewöhnliche Wirtschaftsleben endgültig bejaht, legitimiert und unter bestimmten Voraussetzungen sogar zum Bestandteil der Wertordnung geworden. Adam Smith
[...] als Moralphilosoph, der er war, wollte [in] seiner "Theorie der moralischen Gefühle" von 1759[...] zeigen, daß die angebliche Amoral des Wirtschaftslebens[...] auf das Zusammenspiel einer wohlgeordneten Natur der Welt mit einem von moralischem Empfinden geleitet und - was gerne übersehen wird - von staatlicher Gesetzgebung korrigierten Menschen hinausläuft. S.292

Die "Bejahung des gewöhnlichen Lebens", was ist darunter zu verstehen? [...]mehr oder weniger widerwillige Hinnahme der Arbeit, des Handels und Geldgeschäftes und der Sexualität [als die] wesentlichen Bestandteile des gewöhnlichen Lebens[...] Es handelt sich um die Emanzipation der Laien von den Klerikern. Denn dazu gehört, daß typische Laienaktivitäten wertvoll werden, die für das Leben der Kleriker irrelevant waren und daher von diesen höchstens toleriert, wenn nicht abgewertet wurden: arbeiten, Geldverdienen, lieben" S.295

Die damals neue, uns heute hingegen selbstverständliche Art zu denken, beruht nämlich auf nichts anderem als einer Schwerpunktverschiebung des Interesses vom Grandiosen zum Gewöhnlichen[...] S.298

Doch damit sind wir bereits bei der Gegenwart, auf die ich noch einen Blick werfen möchte um zu sehen, wohin uns die Bejahung des gewöhnlichen Lebens bis heute geführt hat. [...] Die Geldwirtschaft bedarf zum Teil nicht einmal mehr der realen Grundlage von Gütern, um dank neuer Technologien so glänzend zu funktionieren wie noch nie. Die Arbeit dürfte für die Mehrzahl der westlichen Menschheit zum höchsten Wert schlechthin geworden sein, denn ihr Besitz entscheidet über Sein und Nicht-Sein im moralischen und of genug auch im physischen Sinn.

Mir scheint also, im Gegensatz zur Zeit ihrer Entstehung hat sich die Bejahung des gewöhnlichen Lebens völlig verselbständigt und von so ziemlich jeder Bindung an andere Werte gelöst. [...]

Die Marktwirtschaft hat sich nicht nur von allen Bindungen gelöst, sondern tritt heute ihrerseits als Wertmaßstab auch für nicht wirtschaftliche Bereiche auf. Sie erfüllt unsere Sprache; ob wir von der Liebe oder vom Sport, von der Wissenschaft oder von der Religion reden - wir benutzen ökonomische Kategorien. Das heißt, die Wirtschaft ist heute Herrin der Diskurse wie es im Mittelalter die Theologie war. Früher glaubten wir an Gott, heute glauben wir an den Markt. Und es bleibt uns gar nichts anderes übrig.

Relativ kurz wird die Bedeutung der "allgemeinen Bejahung der Liebe" im sechsten Abschnitt behandelt. Die Seiten 292 - 295 möchte ich bei meiner Zusammenfassung übergehen, da der Schwerpunkt des Textes von Prof. Reinhard sich auf unsere Wirtschaftsordnung bezieht.