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Wettstreit der Werte: Anmerkungen zum zeitgenössischen islamischen Diskurs

Gudrun Krämer
Professorin für Islamwissenschaften an der Freien Universität Berlin und Fellow am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien, Erfurt

Seiten 469 - 493

Moderation: Dr. Erna Subklew

Die Zusammenfassung dieses Kapitels und Fragen zum Thema wurden von Dr. Erna Subklew verfasst. Sie dienen als Grundlage für die Diskussion im Forum.

In der gesamten Welt besinnt man sich im Augenblick auf seine Werte. In Europa auf die christlich abendländischen, Amerika fühlt sich für die Freiheit zuständig, und in Asien besinnt man sich auf seinen Eigencharakter. Über Werte streitet auch die islamische Welt mit sich und mit den anderen. Die westliche Welt fordert vom Islam und den Muslimen eine "Aufklärung", die ihnen den Weg nach Europa öffnen soll. Sie fordert Rechtsstaatlichkeit und gute Regierungsführung, Toleranz und Freiheit und Achtung der Menschenrechte. Dabei müssen die Muslime ihr Verhältnis zum Westen und zum Islam definieren, das bedeutet, dass sich die Wertefrage nicht von der Identitätsfrage trennen lässt. Man darf nicht vergessen, dass die meisten Muslime nicht im Nahen und Mittleren Osten leben, obwohl von dort die stärksten Impulse ausgehen, sondern vorwiegend in Süd- und Südostasien.
So gibt es den islamischen Diskurs in mehreren Varianten. Gleichwohl gibt es einen festen Bestand an Grundwerten - Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit, Verantwortung, das Recht auf politische Mitsprache und die religiös verankerten - Aufrichtigkeit, Mitgefühl und die Achtung vor dem Leben.

Islam als Text
Der Islam ist für uns eigen, anders und fremd. Er ist aber weder einförmig noch unwandelbar. Wir können also bei einer Betrachtung des Islams nur die Traditionen heranziehen, die für die Muslime zu allen Zeiten und an allen Orten als normativ gelten. Diese Tradition besteht aus Texten sehr unterschiedlicher Art. Da ist zunächst der Koran (Rezitation), nach islamischem Verständnis, die von Gott zu Mohammed gesandte letztgültige Offenbarung. Nur in Arabisch (in keiner anderen Sprache) gilt er als Gottes direkte Rede, die 632 redigiert und in ihre jetzige Fassung gebracht wurde. Übersetzungen des Korans werden nur als "Annäherungen" an Gottes Wort gewertet.
Als zweiter verbindlicher Text gilt die Sunna (gebahnter Pfad ). Sie besteht aus normativen Beispielen, die wiederum aus einzelnen Berichten bestehen, den Hadithen, die von göttlicher Inspiration festgehaltenen Reden und ihre Praxis.
Die Sunniten erkennen sechs Sammlungen als kanonisch an, die Schiiten vier, abhängig von den Kalifen. (Die Sunniten zählen 6 Kalifen, die Schiiten nur 4 als erste Nachfolger Muhammads). Die Sunna wird nicht rezitiert, wie der Koran, sondern zitiert. Sie dokumentiert die sozialen Normen und Praktiken der Arabischen Halbinsel des 7. Jahrhunderts. Obwohl zeitlich und örtlich gebunden, meidet man bis heute eine kritische Auseinandersetzung mit ihr. Noch weniger aber wagt man über den Koran nachzudenken, bzw. eine Textkritik zu üben. Dabei ist man sich bewusst, dass der koranische Text sehr dicht, dunkel und selbst bei besten Arabischkenntnissen nicht eindeutig und erschöpfend erfasst werden kann. Probleme der Koranauslegung bei der Wertedebatte werden von Islamwissenschaftlern geleugnet.

Islamischer Diskurs
Islam ist, was im Koran und der Sunna steht. Keine Idee, Handlung, Tugend oder Institution kann als islamisch gelten, wenn sie sich nicht auf die beiden zurückführen lässt. Islam ist mehr als nur ein Bekenntnis zu Gott und Muhammad, er verlangt nach Taten, die vor der Welt bezeugt werden müssen. Der Koran darf nicht ohne gesellschaftliche Wirkung bleiben: Islam ist Religion und Welt. Islamisten spitzen diese weithin geteilte Auffassung in zweierlei Hinsicht zu: Normen und Werte haben als Fundament allein Koran und Sunna. Das richtet sich auch gegen Muslime, die weitere Quellen der Inspiration und Orientierung gelten lassen wollen.
Die Islamisten erkennen keine gemeinsamen menschlichen Werte an. Sie wollen die Grenzen zwischen den Religionen aufrecht erhalten, obwohl sie durch Migration und die Globalisierung verwischt sind. Die Grenze, die einmal territorial definiert war, zwischen dem Gebiet des Islams (dar al-islam) und dem Gebiet der Andersgläubigen, dem des Krieges (dar al-harb), das erobert werden sollte. Heute kann man eventuell noch ein Gebiet des Waffenstillstandes (dar as-sulh) bzw. der Vertragsbeziehungen (dar al-ahd) hinzufügen. Das ist aber nicht durchzuhalten. Denn es müsste zu einer Abwanderung aus den drei anderen Gebieten in ein dar al-islam kommen oder die Einführung der Scharia in das dar al-harb.
Unter Islamisten (damit sind nicht Terroristen gemeint) sollen hier diejenigen aller sozialen Schichten verstanden werden, die gemeinsam der Überzeugung sind, der Islam stelle ein eigenes in sich geschlossenes Gefüge von Normen und Werten dar, das die individuelle Lebensführung und öffentliche Ordnung gestalten müsse. Ein in Koran und Sunna festgefügtes Gebilde, einzigartig und unwandelbar, das allen anderen Systemen moralisch überlegen ist.

Islamische Grundwerte
Beim islamischen Diskurs machen Koran und Sunna die eigene Position unangreifbar. Der Diskurs bedient sich der Sprache der Jurisprudenz ohne deren Verfahren und Logik zu benutzen. Der Eindruck fester Verwurzelung in der Tradition ist gewollt. Nur wenige wagen zu sagen, die Scharia sei für moderne Muslime in der heutigen Form ungeeignet.
Eine Diskussion darüber, was Scharia sei, ist jedoch fortgeschritten. Nach vorherrschender Auffassung, nicht nur der Islamisten, sondern auch der modernen Moslems, ist sie im Kern göttliche Satzung, von Menschen mehr oder weniger korrekt verstanden, abgeleitet und umgesetzt. Dabei wird die Unterscheidung von göttlicher Norm (shar'ia) und menschlicher Rechtsfindung (fiqh) durchaus anerkannt. Der Unterschied liegt in der Reichweite des Individuums. Während die einen den geringen Spielraum betonen, geben die anderen dem Individuum mehr Spielraum. Sie halten die im Koran gegebenen Normen für gering. Die im 18. Jahrhundert von der Vernunft geleitete Rechtsentwicklung (ijtihad) bleibt an die normativen Quellen gebunden. Sie ist nur frei von der Bindung an eine bestimmte Rechtsschule. Eine Unterscheidung zwischen Scharia und Juristenrecht ist in der Theorie leichter zu vollziehen als in der Praxis.
Zwei Interpretationslinien sind hier zu finden: die kontextualisierende, die sich auf die Umstände, den Kontext unter dem die Aussage gemacht wurde, bezieht und dabei die allgemeine Verbindlichkeit einschränkt. In der klassischen Interpretation dagegen, wird sie als Gebot eingestuft. So ist Sure 4, die im Zusammenhang mit der Versorgung von weiblichen Waisen von der Möglichkeit der Polygamie spricht, dafür ein gutes Beispiel.
Noch weitergehende Perspektiven bietet der kontextbezogene relativierende Ansatz, wenn das abstrahierende Moment dazu kommt. Der Ansatz fußt auf der Annahme, der Islam enthalte einen Bestand allgemeiner Normen und Werte: Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit, Verantwortung und Partizipation (shura). Diese müssen im Einklang mit den sich wandelnden Lebensumständen sensibel und flexibel umgesetzt werden. Moderne Autoren verweisen auf die klassische islamische Jurisprudenz, die auf ein gewisses Maß an vernunftgeleiteter Abstraktion nicht verzichten kann. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang das Konzept des Gemeinwohls.
Der Katalog nennt hier 5 Grundgüter: Schutz von Religion, Leben, Nachkommenschaft, Eigentum und Vernunft oder Ehre. Dabei gehen moderne Autoren vielfach über die von der klassischen Jurisprudenz verteidigten Linie hinaus.

Gerechtigkeit und Gleichheit
Gerechtigkeit ist sowohl ein klassisches Anliegen des islamischen, als auch des europäischen Denkens. Sie steht an der Spitze des islamischen Wertekatalogs und ist der Grundwert des Islams schlechthin. Sie bildet das Fundament der umfassenden Prinzipien und der allgemeinen Regeln. Mit der Gerechtigkeit hat Gott dem Menschen einen geraden Pfad ins Jenseits gegeben.
Das Wort Gerechtigkeit deckt im Islam ein weites semantisches Feld ab. Der Koran bietet nicht explizit eine Theorie der Gerechtigkeit an, er gibt konkrete Hinweise auf gerechtes Handeln im konkreten Lebensraum. Im weitesten Sinne ist Gerechtigkeit das mit Gottes Willen übereinstimmende rechte (richtige) Verhalten, wie es in den Büchern gefordert wird.. Es steht im Zusammenhang mit dem Ideal des rechten Maßes und der Mäßigung. Gerechtigkeit erfordert Fairness, Unparteilichkeit, Ausgewogenheit und Ausgeglichenheit. Sie steht für die Goldene Mitte (Sure 2,143). Eine gerechte Ordnung hält die Gesellschaft in harmonischer Balance, im Sinne der Forderung der Antike: Jedem das Seine. Der Herrscher steht zwar über seinen Untertanen, aber nicht über dem Gesetz. Die von Gott gegebene Würde und Gleichwertigkeit zieht nicht zwingend eine soziale Gleichheit nach sich. Obwohl Mann und Frau nach dem Koran als Partner aus dem selben Stoff geschaffen sind und für ihr Leben vor Gott die gleiche Verantwortung tragen, genießen die Männer laut Sure 4,34 Vorrang vor den Frauen. Laut Sayyid Quth ist die Familie wie eine administrative Hierarchie aufgebaut, wie wir sie in Unternehmen finden.
Die Aussage der oben genannten Sure bedeutet, wenn sie übersetzt wird: Der Bandbreite männlicher Dominanz entspricht die weiblicher Unterordnung. Frauen stehen unter männlichem Schutz, die Männer sind den Frauen voran gestellt. Die von Gott gewollten Unterschiede müssen in angemessener Weise berücksichtigt werden. In der Ökonomie handelt es sich um eine Moralökonomie. Zinsen und Versicherungen sind untersagt

Für mich stellen sich folgende Fragen:
  1. Was fällt Ihnen persönlich im Umgang mit Muslimen auf, das Sie in Verbindung zum Islam bringen?
  2. Sehen sie eine, wenn auch nur teilweise, Übereinstimmung zwischen christlichen und islamischen Werten?
  3. Glauben Sie, dass die Integration von Moslems auf die Dauer gesehen, sich schwer oder leicht verwirklichen lässt?

Links zum Thema



Zur Person von Prof.Dr. Gudrun Krämer

1972-78 Studium der Geschichte, Islam- und Politikwissenschaft sowie der Anglistik in Heidelberg, Bonn, Sussex (Großbritannien)
1978 Staatsexamen (Geschichte, Politikwissenschaft, Anglistik) in Heidelberg
1981 Promotion
1994 Habilitation im Fach Islamwissenschaft an der Universität Hamburg
1982-94 (einschl. Beurlaubungen) Nahost-Referentin an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen bei München
1987-89 Vertretung der Professur für gegenwartsbezogene Orientwissenschaft an der Universität Hamburg
1994 Annahme des Rufs auf die Professur für Islamwissenschaft an der Universität Bonn
1996 Übernahme des Lehrstuhls für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin